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Tagebuch 1937/2
Geschmacklosigkeiten dorthin ausgebowelt haben. „Dorthin“
– das ist ein Gebäu[de],
dessen einzige Hoffnung eine Holztreppe ist, die d. Stockwerke in aufdringlicher
Anlage verbindet : Vielleicht brennt sie doch einmal ab und d. unglückselige Hendy
(momentan am Lago Maggiore) kann d. ganze Museum mit Versicherungssumme
neu starten. Das war d. Vormittag. Der Nachmittag war eine Siesta, in der wir einen
Teil d. auf d. Schiff versäumten Nacht nachholten. So eine Siesta u. die durchschla-
fene Nacht danach, das ist ein solches Untertauchen ins Jenseits, daß man d. Distanz
dann doppelt spürt. Ich kann es mir nicht denken, daß ich vorgestern noch auf d.
andern Insel war, mit den tiefen Schatten und dem vielen warmen Braun in d. Baum-
kronen. Hier ist d. Luft ein Graus, das Badewasser eine rotgraue Sauce, die Häuser
schwarzroter Ruß. Die Lichtreklame am Abend gegen den Schwefel-gelben Himmel
aus dem es Chokolade näßt, giftig, ob sie grün oder himmelblau scheinen. Da hab ich
so oft von dieser entsetzlichen Luft in d. Industriestädten hier gelesen (Lawrence),
aber man liest ja nur darüber hinweg, wenn man das nicht selbst einmal erlebt hat.
Das Auto musste parallel mit d. Industrialisierung dieser Städte erfunden werden,
was hätten sonst d. reichen Leute hier vom Leben gehabt !
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Abends (Chesterfield).
Das war ein aufregender Tag. Zuerst per Taxi (hin u. zurück 1 Pfund !) zum Earl of
Harewood. Aus dieser abscheulichen Stadt durch Villenviertel ins Hügelland mit d.
unendlichen von Mauern eingefassten Park. Der Earl hat plötzlich schon um 10 mit
d. Bahn nach London müssen, hat ins Hôtel teleph[oniert], ob wir früher kommen
könnten u. s. w., aber dann alles für uns hergerichtet u. abgefahren. Wir wurden wie d.
Fürsten bedient u. waren sehr froh, alles allein sehen zu können. Die wahren Schätze
d. Hauses sind nicht die von Borenius herausgegebenen Bilder, unter denen nur das
„Diana u. Aktäon“ von Tizian hervorragen, sondern das China-Porzellan. Nicht
daß ich es beurteilen könnte, aber die Erbsteuerbemessung dient mir als Grund-
lage. Von d. Zeichnungen, die in zwei Kasteln untergebracht sind, ist außer dem Ti-
zian (Pfingstfest), einem Carpaccio, einem Palma Giov[ane], und einer Diana, ei-
nem Veronese (der merkwürdigerweise hier noch immer Van Dyck (?) heißt, nur ein
herrlicher Signorelli, Gozzoli (2seitig), Lodov[ico] Carracci. (Wir sahen unter dem
entzückenden Chippendale-Möbel einen Fauteuil, dessen Sitz u. Rückseite ganz in
Petitpoint gestickt war ; das hat d. Earl of Harewood selbst getan, er reist so viel mit
d. Eisenbahn u. da stickt er, statt Kreuzworträtsel zu raten. Der Earl – u. nicht seine
Gattin, die Schwester des Königs – ist 50 Jahre alt.) Da wir schneller fertig wurden,
als wir gedacht hatten telefonierten wir nach Chatsworth, daß wir schon um 2 ankä-
men, damit d. Wagen in Chesterfield an die Bahn käme. Alles klappte u. wir fuhren
mit dem liebenswürdigen Librarian Thomson (dem älteren Bruder des Keepers von
Lord Elsmere Bridgewaterhouse) aus dem öden Chesterfield über einen Hügel, hin-
ter dem der Himmel klarer wurde, nach Chatsworth. Was ist das doch für ein wun-
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien