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Tagebuch 1937/3
(3. Büchel, Frühjahr 1937)
8. Juli
(abends in einer Lounge in Hull). Wir haben den Morgen in Chatsworth gearbeitet.
Der Himmel war endlich blau, als wir aufstanden, blieb es auch noch während uns
Thomson auf einem andern womöglich noch reizenderen Weg ins Schloß brachte.
Wir kamen an kleinen Cottages vorbei, von denen manche drei Jahrhunderte alt wa-
ren. Man kennt es nur an der gewachsenen Form – kein einziges Ornament hilft da-
bei. Strohdächer hängen schräg fast bis an d. Erde. Gainsboroughlandscape. Eigent-
lich war es mehr ein Aufarbeiten. Die Rötelzeichnungen nach Putten und Gottvater
(die hier unter Correggio eingereiht sind), die Fiocco als Pordenone „entdeckt“ hat,
haben hier schon den Vermerk von Mrs. Strong, daß sie wohl nach Pordenone und
nicht nach Correggio kopiert wären. Wir sind auch ganz überzeugt davon, Fiocco
konnte sie wohl nur f[ür] Orig[inale] halten, da er sie nur nach d. Braunschen Photos
kannte. Er war nie in Chatsworth. Wir haben nichts besonderes neues heute mehr
gefunden (aber gute Kleinmeister) ; dafür uns tief in die Giorgionezeichnung hin-
ein verbissen, die ebenso mysteriös ist wie d. Komposition selbst. Während d. Arbeit
kam d. Duchess u. lud uns zum Lunch ein. Als es Zeit dazu war, packten wir un-
sere Sachen ein, um uns die Hände zu waschen, aber durch eine Verknüpfung von
Umständen (zugefall[ene] Türe etc.) landeten wir verfrüht im Zimmer der Herzo-
gin u. während Thomson Hans abführen konnte, war ich darauf angewiesen, von der
Hohen Frau selbst aufs Klo geführt zu werden (das hier euphemistisch Bathroom
hieß). Ich kannte es schon von gestern, es ist durch eine getarnte Tür neben Holbeins
Heinrich VIII. Der Lunch war sehr gemütlich u. lebhaft, die alte Dame ist ebenso
hübsch anzusehen wie amüsant u. menschlich. Am besten hat mir ihre Natürlich-
keit gefallen : sie haben das Haus dreimal d. Woche für d. Besuch freigegeben, man
zahlt also einen Sch[illing] pro Kopf, das Geld bekommen die Spitäler, an manchen
Tagen kommen 5000 Personen. Über diese Besuche wurde gesprochen, wie sie sich
gerne absentieren, um einen überraschenden Einblick in irgendeinen Raum zu be-
kommen, der nicht auf d. Besichtigungstour liegt. „Am liebsten gingen sie natürlich
in ein Schlafzimmer. Ich kann das sehr gut verstehen, wenn ich auf Reisen bin, bin
ich genau so.“ Das Essen war wie meistens ganz leicht u. Miniaturportionen, kein
Alkohol, viel Obst. Der Duke, der wie sich sein eigener Sohn ausdrückt (Mitteil[ung]
Thomson’s), so viel ißt, daß man immer Angst hat, er könnte platzen, war nicht dabei,
er scheint es vorzuziehen, seinem Laster allein zu huldigen. Nach dem Lunch gingen
wir das Schloß bez[iehungsweise] seine Kunstschätze besehen ; von den beiden Tizian
zugeschrieb[enen] Porträts, scheint dem Hansen das eine Sebastiano anzugehören,
das andre einem Nachahmer Tizians ; ein sehr beschädigtes Bild, das kaum beurteilt
werden kann. Eine Replique des Prinzen Philipp II. ist etwas hart, aber wohl in der
Werkstatt entstanden. Ein kl[einer] Hieron[ymus] mit entzückender Landschaft ist
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien