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Tagebuch 1937/3
Die letzte Nacht war lärmender denn je – der einzige Nachteil unserer Gastwoh-
nung. Jetzt warteten wir die letzten Minuten, Pussi*, von Mrs. Bonham begleitet,
[die] ist schon zu uns gestoßen, wir chapronieren sie bis Paris
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19. [Juli]
Die Reise war sonnig, angenehm schläfrig u. ohne Zwischenfälle. Floch am Bahn-
hof ! Total erschüttert ! Alles war für unser Kommen gerichtet – da meldet sich d.
Schwester für denselben Abend an. Da er uns aber schließlich doch im Hôtel Bisson
unterbringen konnte, sind wir gar nicht so unglückl[ich] darüber, wie es erschien. In
einem Garten gleich bei einem d. Ausstellungseingänge hat er uns dann die Details d.
Oesterr[eichischen] Ausstell[ung] erzählt. Wir hörten die Wellen über unserem Kopf
zusammenschlagen. Dann haben wir in einem kleinen Restaurant bei d. Chambre
des Députés genachtmahlt. An den Wänden hingen alte u. neue Gemälde in Rahmen
zu herabgesetzten Preisen. Mit großen Namen. Floch warf einen Blick darauf : „Das
soll von Modigliani sein ? ! Das war nie von Modigliani !“ (H[ans] denkt : Glückliches
Land, in dem einer einen Modigliani fälschen kann !) Dann ging Floch seine Schwes-
ter abholen. Und wir in d. Ausstellung. Was wir in d. Nähe sahen (wir waren in d.
Avenue d. Marchands geraten) war der letzte Schund. Aber immer wieder hatten
wir d. Blick in d. Ferne. Feine Silhouetten märchenhaft in d. Willkür ihrer Formen u.
märchenhaft auch in ihrer Entrückung durch die dazwischen gelegten Wasserflächen.
Ganz stille, fein nuancierte farbige Visionen. Träume, ohne Realität.
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(Abends beim dinner auf d. Straße Rue Mazarine). Wir waren am Vormittag in d.
Ausstell[ung] französ[ischer] Kunst in dem neugebauten Haus bei d. Place de l’Alma,
das etwas dauerndes sein soll, aber wie ein Gebäude wirkt, das nach Gebrauch wie-
der abgerissen werden soll. Die Ausstell[ung] fängt mit antiken Ausgrabungen an u.
endet mit d. Ende d. XIX. Jhs. Wir machten das letzte Jahrhundert, das den oberen
Stock einnimmt, nur sehr kursorisch durch, erstens weil es oben noch drückender
heiß war, zweitens weil wir schon von unten am Ende d. Aufnahmefähigkeit waren.
Die Qualität der mittelalterlichen Kunst ist unvergleichlich, die Teppiche ganz ein-
zig u. d. Goldschmiedearbeiten. Die Bilder zumeist Wiedersehen schon alt Bekann-
ter. Entzückend die einzelnen Beispiele von Skulpturen. Das 17. Jh. mit Latour u.
Poussin als Höhepunkte. (Ein Poussin aus d. Eremitage hat mir wundervoll gefallen).
Wir haben uns unser Mittagessen eingekauft u. im Zimmer gegessen, das noch nicht
aufgeräumt war ! (Ein langer Brief von Anderl teilt seine nächsten Pläne mit ; einer
d. Felix veranlaßt Hans an Skubl zu schreiben). Waren sehr ausgeruht, als Floch uns
holte u. nach einem Schwarzen sehr aufgefrischt. Im Petit Palais die Ausstell[ung]
der heutigen Kunst war sehr anregend ; Despiau u. Maillol als Repräsentanten u. Ge-
gensätze ; dann die Maler jeder mit einer Auswahl, die die ganze Entwicklung zeigen
* Bussi
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien