Page - 302 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Image of the Page - 302 -
Text of the Page - 302 -
302
Tagebuch 1938/2
Vormittag so etwas wie ein Teilsieg (für uns) beschieden war. Eigentlich vom psycho-
l[o gischen] aus sehr interessant … Hier haben wir mehr aufgelöst als aufgebaut. Die
tessere sind gekommen, die Visen leider erst z[um] T[eil] versorgt (es fehlt das fran-
zö s[ische] !), ein gelungener Halbtagsausflug nach Padua, d. h. nach Praglia, war das
einzig kunsthistorische Erwähnenswerte. Wir fuhren die 15 km von Padua mit d.
Taxi, das Kloster liegt entzückend in dem sanften Hügelgelände, ganz grün. Bene-
dictus, der die Einsamkeit liebt. Ein junger Padre (Agostino) führte uns ; ein Wiener,
der erst 6 Jahre Jus studiert hatte, bevor er Geistlicher wurde. Er war sehr gesprä-
chig u. wissbegierig u. wir bekamen dadurch mehr zusehen als sonst d. Fremden. Ein
bezeichn[eter] „Camillers Ballini de Tizianis“, hl. Laurent[ius] tauft eine Familie von
1574 und ein merkwürdig manierist[isches] Bild, das d. Tod d. hl. Walpurgis darstellt,
die auf d. Totenbett liegend den Fuß zum Kuß einer Trauernden entgegenhebt. Dazu
noch kleinfigurig l[inks] oben Christ[us], der den vor d. Betpult Knienden erscheint.
Eine Versuch[u]ng d. hl. Anton[ius] durch weibl[ich] l[inks] herauseilenden beklei de-
t[en] Dämon mit Vogelfüssen von Dario Varotari sehr tintorettesk. Ein entzückendes
Abtzimmer mit Fresken ringsum Landschaften mit hineingesetzten allegorischen
Devisen u. bibl[ischen] Szenchen u. stehend Nischenfigur. Die Kirchenapsis unzwei-
felhaft von Do[menico] Carp[accio], Christus Himmelfahrend, unten werden d. Apo-
stel in Halbfig[ur] sichtbar (als Do[menico] Carp[accio] auch von Fiocco bestimmt,
während man im Convento an Zelotti glaubt).
–11
20. [Juli]
Wir haben heute früh Venedig verlassen. Die Tage waren mit d. Familientragödin
Mizzaro gefüllt
– wie die Agramer mit jener des Reichsman. In Bassano (Albergo del
Mondo) war Station. Wie schön ist doch diese Fahrt, wie bezaubernd diese Stadt !
Wir haben alle Zeichnungen noch am Vormittag durchgesehen u. 4 am Nachm[ittag],
dann (nach ausgiebiger Schlafpause) photogr[aphiert]. Die Bilder haben uns heute
nicht den großen Eindruck gemacht, wie d. erstemal. Der große Wandel des Künst-
lers, diese totale Umkrempelung muß doch wohl für eine nicht zu tiefe künstlerische
Persönlichkeit sprechen. (Auf einem Riesenbild Leandros im Stiegenhaus glaubten
wir zwei – den Leichnam d. hl. Johannes von Damaskus herausgrabende – Mannen
aus d. Albertina wiederzufinden, haben aber keine Möglichkeit d. Nachprüfens !) Tua
war besonders freundlich u. voll – spontanen – Mitgefühls für d. Schicksal unserer
Vaterstadt
…12
Wir sind dann noch viele Stunden herumgestrolcht, eine Kirche nach d. andren,
aber mehr eine Aussicht nach d. andern. Bei den Signori Spechini waren wir – mit
einer Empfehlung Tuas –, um zwei große Bassanos zu sehen. Das eine, eine Arche
Noah, schien uns besonders gut, soweit d. Nachdunkeln ein Urteil erlaubte ! Wie ori-
ginell ist doch d. hölzerne alte Brücke mit ihren Laden daran. Am drüberen Ufer ka-
men wir an d. prachtvoll gelegenen u. imponierenden Ca’ Veggia vorbei. Mich lockte
back to the
book Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)"
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien