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1931begonnenenDebütromansLaNausée (1938),mitentsprechendhohemphäno-
menologischen Gehalt.18 In La Nausée lässt Sartre seinen Helden Roquentin in
jener Kastanienbaum-Passage, die 1946 „europäischenRuhmerlangt“19, ein kon-
kretes Phänomen (eineKastanienbaumwurzel) auf seinWesenhinüberschreiten,
dochmündet die bemühte eidetische Reduktion, der Blick Roquentins, der alle
vorgefertigten Kategorien, Deutungen und Urteile abstreift, in eine Ekstase des
Entsetzens:
Icherinnertemichnichtmehr,daßdaseineWurzelwar.DieWörterwarenverschwunden
undmit ihnen die Bedeutung der Dinge, ihre Verwendungsweisen, die schwachenMar-
kierungen,diedieMenschenauf ihrerOberflächeeingezeichnethaben. Ichsaßda,etwas
krumm, den Kopf gesenkt, allein dieser schwarzen und knotigen, ganz und gar rohen
Massegegenüber,diemirangstmachte.20
(Je neme rappelais plus que c’était une racine. Lesmots s’étaient évanouis et, avec eux,
la significationdes choses, leursmodesd’emploi, les faibles repèresque leshommesont
tracésà leur surface. J’étaisassis,unpeuvoûté, la têtebasse, seul en facedecettemasse
noireetnoueuseentièrementbruteetquimefaisaitpeur.)21
In die Betrachtung der Kastanienbaumwurzel versunken, geben sichdie Indivi-
dualität undDiversität derDinge als oberflächlicher Schein zu erkennen, hinter
demmonströse,weicheMassen („desmassesmonstrueusesetmolles“22)hervor-
quellen; Roquentin ist konfrontiert mit Unordnung und Undurchdringlichkeit,
mit derOpazität desAn-sich-seins („opacité de l’être-en-soi“23). EinfacheGeräu-
sche,Gerüche,Geschmäckeerweisensichals fragwürdig, alleEigenschaftender
Wurzel entgleiten ihmnoch imMoment, da er sie verleiht: So bemerkt er, dass
beispielsweise ‚schwarz‘ einevomGegenstandabprallende sprachlicheÜberein-
kunft ist, die lediglichdieVoreingenommenheit des Sehens aufzeigt, das selbst
eine gereinigte, vereinfachte IdeederMenschen sei („une idéenettoyée, simpli-
18 Cf. Sartre: Carnets de la drôle de guerre, S. 404f.: „Husserl m’avait pris, je voyais tout à
travers lesperspectivesdesaphilosophie“.
19 EgonVietta:MonologüberdieExistenz.Von JeanPaul Sartre.Ausder „Nausée“ frei über-
tragen. In:DieZeit, 11.04.1946.DerSartrepositivgegenüberstehendeSchriftstellerundKritiker
Vietta ist nebendem inTübingen lehrendenPhilosophenundPädagogenOttoFriedrichBoll-
now „einer der wichtigen Vermittler des französischen Existentialismus nach Deutschland“.
Rahner:Selbst-undFremdwahrnehmungsmuster,S. 122.
20 Jean-PaulSartre:DerEkel.DeutschvonUliAumüller. (GesammelteWerke inEinzelausga-
ben,RomaneundErzählungen1.)Reinbek1994 [1982],S. 144.
21 Jean-PaulSartre:LaNausée.Paris 1938,S. 179.
22 Sartre:LaNausée,S. 180.
23 Jean-PaulSartre:L’Êtreet leNéant.Essaid’ontologiephénoménologique.Paris 1943,S.32.
3.1 Existentialismus:Entstehung,VertreterInnen,Tendenzen 23
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur