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auch einigen grosszügig Veranlagten seinen Stempel aufgedrückt undweite Kreise der
jungen,neuenIdeenaufgeschlossenenIntelligenzangezogen.ErhatdieEinenbegeistert,
die Anderen zur Verzweiflung gebracht, alle aber hat er in Erstaunen versetzt und aus
ihrergewohntenBahngeworfen.73
Währendder InnovatorSartre„mancheMoralistenentrüstet“,wirdCamus imsel-
benHeft als ein ebensolcher vorgestellt: Der „äusserst schlicht gehalteneStil, der
Sensationenundgrossprecherische [!] Redensartenablehnt, gibtwohl jenenKriti-
kernRecht,die inAlbertCamuseinen ‚klassischen‘Schriftsteller sehenunddie im
Hinblick auf ihn an die sogenannten ‚Moralisten‘der französischen Literatur des
XVII. Jahrhunderts erinnern.“74 Sartre selbst bezeichnet Camus in diesem Sinne
als einen ‚Klassiker‘: Gleichwohl er sich auf Kierkegaard, Jaspers undHeidegger
berufe, seien seinewahrenMeister die französischenMoralisten des 17. Jahrhun-
derts. („Bienqu’il seréfèreàKierkegaard,àJaspers,àHeidegger,sesvraismaîtres,
cesont lesmoralistes françaisduXVIIe siècle. Il estunclassique“75.)Der französi-
sche Jesuitenpater JeanDaniélouwird 1946 inder österreichischenZeitschriftDer
TurmCamus’moralischeQualitätenbesonderswürdigen:
Die Position von Camus ist die einer großenBescheidenheit und intellektuellen Sauber-
keit; er lehnt jede Festlegung und alle vorzeitige Hoffnung ab und richtet sein klares
AugeaufalleDinge.ErverachtetdasMarktschreierische.Aber imGegensatzzu jenen,bei
denendiesermitleidlose Blick etwasGleichgültiges undZynisches hat oder die aus dem
Anblickeiner inTrümmergestürztenWelteinebittereBefriedigungschöpfen, istdieKlar-
heit bei Camus vonderWärmemenschlichenMitgefühls begleitet. In einerWelt, die der
Verzweiflung anheimgegeben ist, ist die einzige demMenschen verstattete Aufgabe, ein
wenig Brüderlichkeit um sich zu verbreiten, um einen Teil des Universums vorläufig
etwasweniger unwohnlich zu gestalten. Ein radikalermetaphysischer Skeptizismus ver-
bindetsichbei ihmmitdemEntschlußzumoralischerSauberkeit.76
Nebenseiner Integrität,die ihmauch inDeutschland„als stereotypesKlischeean-
haftete“77, lobt das BulletinGeistiges Frankreich Camus’ Sprache als „ruhig und
klar“undistwederaufderSeitederer,die ihmeine„Unfähigkeit, ohnedieGross-
buchstabenderAbstraktionauszukommen“,attestieren,nochaufSeitenderer,die
sich an seinen „allzu präzise[n] Formulierungen“78 stören. Camus’ Originalität
liege gerade darin, dass er „eine einfache Sprache imDienst des einfachenMen-
73 o.V.: Jean-PaulSartreun[!]derExistentialismus. In:Kulturelles, 17.06.1947.
74 o.V.:„DiePest“vonAlbertCamus. In:Kulturelles, 17.06.1947.
75 Jean-Paul Sartre: Interview [mit Christian Grisoli]. In: Sartre: Œuvres romanesques,
S. 1912–1917,hierS. 1916. [Zuerst in:Paru,Nr. 13,Dezember1945.]
76 JeanDaniélou:Kommunismus–Existentialismus–Christianismus. In:DerTurm2 (1946),
Nr. 1,S.8–11,hierS. 10.
77 Rahner: Jean-PaulSartrealsModelldes Intellektuellen,S.330.
78 o.V.:„DieGerechten“vonAlbertCamus. In:GeistigesFrankreich, 16.01.1950.
78 4 FranzösischeKulturpolitikundersteExistentialismus-Begegnungen
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur