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derLiteratur?“diezweiteHälftevonSartresprogrammatischemArtikel„LaNa-
tionalisationde la littérature“ aus derNovember-Nummer 1945 von Les Temps
modernesbringt). Intensiver vermitteltwerdenexistentialistischeTexte in Lite-
ratur- und Kulturzeitschriften, die zunächst überwiegend ausländische Au-
torInnen heranziehen und so als Tor zu anderen Literaturen ein „echtes
Nachholbedürfnis“95 desLesepublikumsstillen.WasÖsterreichvondemeben-
falls unterKnappheiten leidendenNachkriegsparis unterscheidet und zugleich
diehauptsächlicheRezeptionsvoraussetzungdarstellt, ist derungleichgrößere
Mangel immaterieller Art. ZeitzeugInnen-Berichte kreisen um einen geistigen
Hunger, der sich inseinerWuchtundifferenziert auf alleKulturgüter richtet,um
einen „Willen, alle Impulse aufzunehmen, die man erhalten konnte“96. Kurt
Frischler,dernachseinemKriegsdienstals Journalistbeider sowjetischenÖster-
reichischen Zeitung arbeitet, bezeichnet dies als eine in seiner Generation (der
zwischen 1912 und 1925Geborenen) verbreitete Empfindungnach Jahren kultu-
rellerAbschirmung:
Waswirgemeinsamhatten,warderglühendeWunsch,allesund jedesnachzuholen,was
sich in jener seit 1938 verschlossenenWelt ereignet hatte–nicht so sehr politisch, son-
dern kulturell, intellektualistischund sozial. Es galt also, alles das nachzuvollziehen, es
sich geistig anzueignen: Bücher undAutoren, derenNamenwir nochnie gehört hatten,
etwaHemingway,etwaSteinbeck,etwaSartreundAnouilh,wirwolltenalleFilmesehen,
die seit 1938 gedrehtwordenwaren, alle Theaterstücke zumindest lesen, die dasNS-Re-
gime verbotenhatte,wirwollten die Großendes Jazz hören, vonArmstrongüber Tatum
undCountBasiebiszuGlennMiller–esgabnichts,wasunsnicht interessierte.97
Diese Leerstelle bedingt nach 1945 die Internationalisierung des literarischen
Feldes, nachdembei jedemKulturtransferMichaelWerner zufolge beides not-
wendig ist, „ein Angebot von außen, das irgendwie ins Blickfeld der Rezep-
tionskultur geratenmuß (hier kanndieVorstellung eines kulturellen ‚Gefälles‘
in der Tat einewichtigeRolle spielen), und eine interneNachfrage, die primär
auf die spezifische Interessenlage der Rezipienten zurückgeht.“98 Der Begriff
des kulturellen Vorsprungs verliert hier seinen normativen Charakter, da ein
Aufholwunschvonder aufnehmendenSeite insTreffengeführtwird, etwavon
FriedrichHeer:„Begierigwurdeversucht, einenNachholbedarf zustillen.Also:
95 EleonoreZlabinger:LiterarischeZeitschriften inÖsterreich1945–1964. Innsbruck:Universi-
tät Innsbruck,Hausarb. 1965,S. 150.
96 Heer:Nach1945,S. 158.
97 KurtFrischler: 1948–daserste journalistische„Normaljahr“. In:Medien&Zeit. Forumfür
historischeKommunikationsforschung9(1994),Nr. 3,S.9–12,hierS.9.
98Werner:DissymmetrienundsymmetrischeModellbildungen inderForschungzumKultur-
transfer,S.94. 4.3 Zeitschriften,Buchmarkt,Übersetzungen 83
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur