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miteinemfranzösischenKollegen,BücherausRomundausMoskau,Zeitungen
aus London undNewYork,Manuskripte aus allen Gegenden tĂĽrmen sich auf
den Tischen“9, berichtet der französische Schriftsteller und Journalist Claude
Roy1946 fĂĽrdenamerikanischenWienerKurier,welcherwiederholt aufKultur-
redakteurInnen der französischen Besatzungsmacht zurückgreift.10 1951 wird
der Existentialismus im österreichischen Besatzungs-Bulletin Geistiges Frank-
reichalsgewaltigeMarketing-Leistungpräsentiert:
HeutehabenJean-PaulSartreunddie jungenLeute,die ihmteilswirklich, teilsangeblich
ihrenLebensstil verdanken, allendiesenStättenneuenRuhmverschafft.Wirwollenhier
nicht viel davon erzählen, es ist schon genug darüber geschriebenworden, ein Kritiker
nannte die Existentialisten von St. Germain sogar den grössten Reklameerfolg seit dem
Zirkus Barnum. Heute gehören die unterirdischen Nachtlokale mit ihren New Orleans-
Jazz-Orchesternund ihren ausgezeichnetenKabaretts, die schwarz gekleidetenMädchen
und die Jungen in buntenHemden, denen Lebensangst und Lebensgier aus denAugen
schauen (und wer möchte ihnen heute einen Vorwurf daraus machen?), gehören alle
diese Wahrzeichen des Nachkriegs-Paris ebenso zu Saint-Germain-des-Prés, wie Anti-
quareundBuchbinder,dieauchdieserErscheinungstandzuhaltenverstehen.11
Nicht lang nach diesem Bericht erschafft die im burgenländischen Mattersburg
aufgewachsene Jungautorin Hertha Kräftner eine nicht unähnliche Momentauf-
nahmevomRiveGauche-Treiben. Siehat zudiesemZeitpunktbereits Sartre gele-
sen, „most of his works“12, wie ein Brief an ihre Freundin Marguerite Rebois
vom2. November 1950 verrät. In Kräftners im „Pariser Tagebuch“ festgehaltenen
Impressionen, die ihr 1951 den 1. Prosapreis der Zeitschriftneuewege einbringen,
stehtdasäußereErscheinungsbildderExistentialistInnenklar imVordergrund:
Zu St. Germain-des-Prés gehört, wer keine Strümpfe trägt in seinen Strohsandalen; wer
seine langen Haare kräuselt, wo sie den offenen Kragen des schwarzen Hemdes errei-
chen; wer niemals seinen Samtrock bürstet; wer lange Hosen unter Kleidern trägt und
seineHaareschneidet,kurzundwild, fallsereinMädchen ist.13
9 ClaudeRoy:Kellner…etwaszumSchreiben! In:WienerKurier, 12.01.1946.
10 Zutreffend etwa auch auf den nach 1945 bei den französischen RadiostationenDornbirn,
InnsbruckundWieneingesetzten JeanPrieur (1914–2016), der imWienerKurier inderRubrik
„Neue französischeBücher“ am19.02.1946Camus’ Lettres à un ami allemand (1945) undSar-
tresLesCheminsde la libertévorstellt.
11 o.V.:Saint-Germain-des-Prés. In:GeistigesFrankreich, 19.03.1951.
12 HerthaKräftner: Kühle Sterne.Gedichte, Prosa, Briefe. AusdemNachlasshg. vonGerhard
AltmannundMaxBlaeulich.FrankfurtamMain2001,S. 226.
13 Hertha Kräftner: Aus demPariser Tagebuch 1950. In: neuewege 6 (1950), Nr. 60, S. 120–
121,hierS. 120.
5.1 Modeundmodedevie:VonSt.Germain-des-Prészum„Strohkoffer“ 99
Existentialismus in Ă–sterreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Ă–sterreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur