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nur sehr, sehr jungeGesichter verschwinden läßt“22.NichtPhilosophieundLite-
ratur stünden imMittelpunkt für jeden, der „modern ist und sich dafür hält“,
sondern „Schnürlsamt, Rollkragenpullover und Fischerhosen“23. Man stößt in
WienaufVarianten:„SolchemitBärtenundsolcheohne.Einige inSchnürlsamt-
hosen, die anderen inBlue-jeans.MitKrawattenodermitMascherl.Mädchen in
Korsarenhosen.Kindervon30undMännervon17Jahren.“24WenigGehör finden
Stimmen,dieversuchen,denExistentialismusvorseinemoberflächlichenRufzu
retten, zumal er schon in Frankreich, also vor jedem Transfer, vollkommen
zweckentfremdet ist, so JeanCocteauam16. Juli 1951 inseinemTagebuch:
Nie zuvorhatmaneinWort soweit von seinerursprünglichenBedeutung sichentfernen
sehen.Nichts tun, inkleinenKellerlokalenherumsitzenund trinken,dasheißtExistenzi-
alist sein. Das ist, als gäbe es inNewYorkRelativisten, die inKellerlokalen tanzen, und
man stellte sich vor, Einstein tanze mit ihnen. Sartre ist an dem Phänomen völlig un-
schuldig.Esgibtkeinenbesser erzogenen,keinenunverdorbeneren,keinenhochherzige-
renMenschen als ihn. Das Nichtstun ist ihm zuwider.Wir wundern uns oft gemeinsam
überdenseltsamenWeg,denseineSchulegenommenhat.25
(Jamaisonnevitun termes’éloignerdavantagedecequ’il exprime.Ne rien faire etboire
dansdespetites caves, c’est être existentialiste. C’est commes’il existait àNewYorkdes
relativistesquidansentdansdescavesetqu’oncroiequ’Einsteinydanseaveceux.Sartre
est complètement irresponsabledecephénomène. Il est l’hommelemieuxélevé, le cœur
le plus correct, l’âme laplusnoble que je connaisse. Il déteste la fainéantise.Nousnous
étonnonssouventensemblede l’étrangecheminparcouruparsonécole.)26
Boris Vianweist in seinembewusst kurz gehaltenen Sartre-Eintrag imManuel
de Saint-Germain-des-Prés (1951) darauf hin, seines Freundes Tätigkeit als
Schriftsteller,Dramatiker undPhilosoph stehe inkeinerlei Zusammenhangmit
Äußerlichkeiten („rigoureusementaucun rapport avec les chemisesà carreaux,
les caves ou les cheveux longs“27). In Sartre, bestätigtMayer, trifft man einen
von allen modischen Entwicklungen unbeeindruckten, „kleinen unauffällig
22 L.:BärteundKunstsind im„Exil“. In:Bild-Telegraf,09.12.1954.
23 L.:BärteundKunstsind im„Exil“. In:Bild-Telegraf,09.12.1954.
24 Z.-F.: Wiener Existentialisten flüchten ins „Exil“. In: Die Presse, 22.01.1955. Cuno Fischer
zeichnet in seinem Artikel „Existenzialisten“ für die deutsche Zeit vom 06.08.1953 folgendes
BildvomexistentialistischenLook:„verwaschenerCordmit Fleckendessin, schwarzeStrümpfe,
dieStückefischweißerBeine freilassen,Kettchenirgendwo,Hindenburgfrisuramerique“.
25 Jean Cocteau: Vollendete Vergangenheit. Band 1. Tagebücher 1951–1952. Hg. von Pierre
Chanel, Deutsch von FriedaGrafe undEnnoPatalas,mit einemVorwort von JoachimKaiser.
München,Zürich1989,S. 11.
26 JeanCocteau:LePassédéfini. I. 1951–1952. Journal, texte établie et annotéparPierreCha-
nel.Paris 1983,S. 11 (Hervorhebung imOriginal).
27 Vian:ManueldeSaint-Germain-des-Prés,S. 203.
102 5 DerExistentialismusalsSubkultur
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur