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und kontrolliert“, betont Oliver Rathkolb: „Aus diesen Widersprüchen heraus
entwickeltesicheineProtestkultur,diebesonders indenStädtensichtbarwurde,
sich aber nur in einer ‚schockierenden‘ Freizeitgestaltung und einer steigenden
Jugendkriminalität erschöpfte.“107 Diese Zeiterscheinung, „eine auffällige Zu-
nahme öffentlicher Randale auf den Straßen größerer Städte“108, porträtiert
Jelineks Roman in Form vonwahllosen Überfällen auf Passanten durch ihre
jugendlichenFigurenSophie,Anna,HansundRainer,denenGewaltumderGe-
waltwillenvorschwebt.
Der existentialistische Kerntopos des acte gratuit wird bereits 1899 und
1914 inAndré Gides Prosa als absichts- und zielloser Akt ausführlich theoreti-
siert („désintéressé; né de soi; l’acte aussi sans but; donc sansmaître; l’acte
libre; l’Acte autochtone“), demgegenüber es nichts Demoralisierenderes („rien
deplusdémoralisant“109)gebe.DassderMensch,dereinunmotiviertesVerbre-
chen („[u]n crime immotivé“) begeht, freiwird („homme libre“110), dieWillkür
also „die Freiheit vor ihrer Domestikation“111 darstellt, wird von Jelineks Ju-
gendlichenwiederholt debattiert. Ihre Überfälle sollen als „Selbstzweck“ und
„Sinnloses aus Prinzip“ nicht auf Determination rückführbar sein und somit
ihre Freiheit bestätigen,was jedochnur bedingt funktioniert: „GeradedasUn-
nötige ist das Prinzip. Ich finde das Nötige aber noch besser, sagt Hans, der
seltsamerweise Geld liebt, und beäugt das Portemonnaie. Geld ist unwichtig,
bespuckt Rainer die Brieftasche,wasmeinst, sinddasHunderter oder Tausen-
der da drinnen?“112Während in Bezug auf dieWillkürtaten Camus’ L’Étranger
107 Oliver Rathkolb: Es ist schwer, jung zu sein. JugendundDemokratie inÖsterreich 1918–
1988.Wien1988,S. 125.
108 JürgenZinnecker: Jugendkultur 1940–1985, hg. vom JugendwerkderDeutschenShell.Op-
laden 1987, S. 125f.DasPhänomendauert an,wieSartresRede (AbrüstungderKultur, S. 1) auf
dem„Weltkongress fürallgemeineAbrüstungundFrieden“ 1962 inMoskaumeint:„EineGefahr
droht: die Zahl jener, diemanbei uns ‚blousonsnoirs‘, anderswo ‚Hooligans‘oder ‚Halbstarke‘
nennt, ist imSteigenbegriffen.Wir könnenundmüssenvondiesen jungenLeuten sagen,wel-
cheUntaten sie auchbegehen,daßwir für sie verantwortlich sind, daßwir indiesen fünfzehn
letzten Jahren es nicht verstanden haben, ihnen ein klares Bewußtsein zu geben über sich
selbst, über ihreKlasse,überdieEntfremdung,unterder sie leiden,daßwirdiesenacktenund
wildenGewalttatenzugelassenhaben,weilwirsienichtaufgeklärtundgeführthaben.“
109 AndréGide:LeProméthéemalenchaîné.Paris 1941,S. 21, 23.FürnähereUntersuchungen
des Topos cf. Martin Raether: Der „Acte gratuit“. Revolte und Literatur. Hegel, Dostojewskij,
Nietzsche,Gide, Sartre, Camus,Beckett. (StudiaRomanica 37.)Heidelberg 1980; sowieVolker
Roloff: DerMörder als Erzähler: Existentialismus und Intertextualität bei Sartre, Camus, Cela
undSábato. In:RomanistischeZeitschrift fürLiteraturgeschichte10 (1986),Nr. 1/2,S. 197–218.
110 AndréGide:LesCavesduVatican.Paris 1922,S. 194,207.
111 HansSaner:DieAnarchiederStille.Basel 1990,S. 148.
112 Jelinek:DieAusgesperrten,S. 11, 129,8f.
5.2 LiterarischeDarstellungendesExistentialismusals Jugendkult 117
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur