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zu bedienen, überzeugter zutage als 1945 in Alexander Lernet-Holenias „Gruß
desDichters“ inderZeitschriftDerTurm:
Umesvollkommenklar zu sagen:wir habenesnichtnötig,mit der Zukunft zukokettieren
undnebulose Projekte zumachen,wir sind, imbesten undwertvollstenVerstande, un-
sereVergangenheit,wirhabenunsnurzubesinnen, daß wirunsereVergangenheit sind–
undsiewirdunsereZukunftwerden.63
Die Konstruktion eines autonomenÖsterreich geht nach 1945Hand inHandmit
derKonstruktioneinerautonomenösterreichischenLiteratur.Überdasaltösterrei-
chische Ideal der großen Vergangenheit von vor 1914 („du grand passé d’avant
1914“64) zeitlich hinausgehend berücksichtigen die französischen Kulturverant-
wortlichendurchausZwischenkriegsautorInnenundkommendamitdemWunsch
nachNeuartigemnach (bzw.Neuem,denn:„Werkanntevor 1945Kafka?“65), der
entgegen dem Gemeinplatz, dass „‚das Neue‘ grundsätzlich nur geringen Ein-
druck“66aufdieÖsterreicherInnenmache,besondersbei jüngerenundschriftstel-
lerisch tätigen LeserInnen nach Kriegsende vorhanden ist. Diese bräuchten sich
bald nicht mehr um internationale Moden zu kümmern, sondern nur um die
„weltoffene Tradition, die unsere Kultur seit langem auszeichnet“67, empfiehlt
Weigel.MitWerkenausdem„übernationalenRaum,denderalteVölkerstaatder
Donaumonarchie als großes Erbe hinterlassen hat“68, erübrigt sich alles In-die-
Ferne-Schweifen,mankönneanknüpfenan „dasKontinuumeiner organischge-
wachsenenKultur“,
andie großeGenerationvorher: andengeheimnisvollenHumorKafkasundandie intel-
lektuelle Skepsis Musils, an die von der Sprache erhellte Untergangsstimmung Trakls
und an die Sprach- und Sachkritik von Karl Kraus, an die Vivisektion der Gesellschaft
durchBroch,andenWeltblickHofmannsthals.69
Kafka, der mit Sartre, Camus und anderen Literatur-Novitäten nach 1945 in
kaumeinemPeriodikumfehlt, regtdortanhaltenddenGeisteinesüberwiegend
progressiven Publikums an: Noch 1954, zum 30. Todestag Kafkas, gibt es
„kaumeinenzweitenAutor,der leidenschaftlicherdiskutiertundvielfältiger in-
63 Lernet-Holenia:GrußdesDichters,S. 109(Hervorhebung imOriginal).
64 Cullin:L’Actionculturelle françaiseenAutricheaprès1945,S.323.
65 Hahnl:VonderDiskreditierungder Ideologien,S. 159.
66 Eisenreich:WorinbestehtderUnterschied?,S.35.
67Weigel:DasverhängteFenster,S.397.
68 Buchebner:Lektüre-Ratschläge fürdie jungeösterreichischeGeneration,S.48.
69 Eisenreich:WorinbestehtderUnterschied?,S.35.
6.1 Verflechtungen:KafkaundderneueKanon 159
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur