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Die Literaturförderungspolitik bringt allgemein „die Hypothek einer ein-
seitigenTraditions- undKanonbildung“82 auf KostenderAutorInnen, die das
Landverlassenmussten.Unter den rarenFällen offenenWiderspruchs gegen
diese Entwicklung bittet Rudolf Geist Ende 1945 in der Zeitschrift Plan „die
jüdische Intelligenz“ zurück „zur Mitarbeit an allen österreichischen Verla-
gen“83. Die Republik zeigt sich derweil „desinteressiert und indolent“84 ge-
genüber denVertriebenen. JeanAméry etwa kehrt, wie auchManès Sperber,
nachKriegsendenicht indieverlorene„Heimat“85 zurück,„dieKränkungwar
zu groß“86. Améry beginnt 1945 „die geistige Landkarte des französischen
Existentialismus zu entziffern“87, seine mehr als drei Jahrzehnte währende
BeschäftigungmitSartre– für ihn„die imponierendste literarisch-philosophi-
sche Figur des Jahrhunderts“88– ist einzigartig unter den deutschsprachigen
Intellektuellen, seinGewichtalsMittler imExistentialismus-TransfernachÖs-
terreich hingegen vernachlässigbar. Vom frankophonen Kulturraum aus pu-
bliziert er in deutschen, kaum jedoch in österreichischen Periodika, so dass
ihn 1961 die prokommunistisch ausgerichtete Zeitschrift Tagebuch im Zuge
einer Besprechung seiner Studie Geburt der Gegenwart („eine brillante Zu-
standsschilderung der westlichen Zivilisation seit dem Kriegsende“) vorstel-
lenmussals„vorurteilslose[n]Belgier“89.
Unter den Exil-SchriftstellerInnen, deren Initiation sich inWien vollzogen
hat, gelangen einige in unmittelbare Nähe Sartres, allerdings ohne geistiges
(Hg.): Literatur in Österreich von 1950 bis 1965. (Walter Buchebner Tagung, 1984, 7.–9. Dez.
1984 inNeuberganderMürz.)Mürzzuschlag1984,S.75–91.
82 Amann:Vorgeschichten,S.56.
83 RudolfGeist:ÖsterreichischeVerpflichtung. In:Plan1 (1945),Nr. 3,S. 232–235,hierS. 234.
84 Schmid:KulturpolitischeTendenzender fünfziger Jahre,S. 19.
85 Cf. zuAmérysHeimatbegriff dasKapitel „WievielHeimatbrauchtderMensch?“ inAméry:
JenseitsvonSchuldundSühne (S. 71–100).
86 Sperber:BismanmirScherbenaufdieAugenlegt,S. 160.
87 Améry:Über dasAltern, S. 109.Mit Feindt lässt sichAmérys beispielloseAuseinanderset-
zung mit Sartre unter den deutschsprachigen SchriftstellerInnen unterstreichen: „[E]r hatte
nichtnurdieSchriftenundWerkeSartresbis indie 1950er Jahreanalysiert, sondern (undhier
kannmanwirklich von Empathie sprechen) weiterhin jede öffentliche Äußerung von Sartre
verfolgt.“ [Übers.d.Verf.] („[I]l n’avaitpasuniquementanalysé lesécrits et lesœuvresdeSar-
tre jusquedans lesannées50,mais [etonpeut ici parler véritablementd’empathie] continuait
à observer chaquemanifestationpubliquedeSartre.“) Feindt: Engagement, empathie, distan-
ciation,S. 77.
88 JeanAméry:EinneuerVerratder Intellektuellen? (1977) In:Améry:Werke,Bd.6:Aufsätze
zur Philosophie. Hg. von Gerhard Scheit. Stuttgart 2004, S. 157–179, hier S. 174 [Zuerst in:
Schatz (Hg.):AbschiedvonUtopia?AnspruchundAuftragder Intellektuellen (1977).]
89 B.F.:Neuundwichtig. In:Tagebuch16 (1961),Nr. 12,S. 15.
162 6 StimmenderGegenwart:ExistentialistischeLiteratur
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur