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keit“186 („une curieuse indifférence“187) erfüllt. Die sich unter den Vorzeichen
derUnaufhebbarkeitdesTodesurteils entwickelndeBefreiungsorgt fürSchwie-
rigkeiten imunwahrscheinlichenSzenario einerAufhebung,wieSartresErzäh-
lung „Le Mur“ zeigt: Im Spanischen Bürgerkrieg wartet der Gefangene Pablo
Ibbietamit zwei anderen Verurteilten auf seine Hinrichtung, wird aber durch
dasVerraten des vermeintlichenVerstecks einesGefährten im letztenMoment
begnadigt, wobei sich die falschenAngaben, die ermacht, unerwartet als tat-
sächlicher Aufenthaltsort des Gesuchten erweisen. Das die Geschichte been-
dende verzweifelte Gelächter Ibbietas über seine Freilassung lässt vermuten,
dasTodesurteil ist reversibel,dieGefühle,dieesausgelösthat, sindesnicht:
Wennmanmir in dem Zustand, in dem ich war, mitgeteilt hätte, daß ich getrost nach
Hause gehen könnte, daßmanmich am Leben ließe, hätte mich das kaltgelassen: ein
paar Stunden oder ein paar Jahre warten, das ist alles gleich, wennman die Illusion,
ewigzusein,verlorenhat.Mir lagannichtsmehr, ingewisserWeisewar ichruhig.188
(Dans l’étatoù j’étais, si l’onétait venum’annoncerque jepouvais rentrer tranquillement
chezmoi,qu’onmelaissait laviesauve,çam’aurait laissé froid:quelquesheuresouquel-
ques années d’attente c’est tout pareil, quand on a perdu l’illusion d’être éternel. Je ne
tenaisplusàrien,enunsens, j’étaiscalme.)189
Ähnlich entwickelt sich Ilse Aichingers Erzählung „Die geöffnete Order“, die
1951 indenStimmenderGegenwarterscheint: Soldaten ineinemStellungskrieg
wartenungeduldig auf ihrenEinsatzundplanenbereits, auchohneBefehl an-
zugreifen, als die Befehlshabenden einen von ihnen mit einer Meldung zum
Kommando schicken. Nach einigem Fragen undWarten mit einer Order auf
186 Camus:DiePest,S. 111.
187 Camus:LaPeste,S. 173.ZueinerweiterendiesbezüglichenRomanideevonCamuscf.Albert
Camus: Tagebücher 1935–1951. Deutsch vonGuidoG.Meister. Reinbek 1997 [1972], S. 427 (Her-
vorhebung imOriginal) (Camus:Carnets II. Janvier 1942–mars 1951. Paris 1964, S. 281 [Hervor-
hebung imOriginal]): „Roman. ZumTode verurteilt. Aberman schmuggelt ihmZyankali zu…
Und dort, in der Einsamkeit seiner Zelle, begann er zu lachen. Ein unendlichesWohlbehagen
erfüllte ihn.ErschrittnichtmehrderMauerzu.ErhattedieganzeNachtvorsich.Erwürdewäh-
lenkönnen…Sichsagen ‚Jetzt‘unddann ‚nein,nocheinenAugenblick‘,unddiesenAugenblick
auskosten…Welch eine Vergeltung!Welch eineWiderlegung!“ („Roman. Condamné àmort.
Maison lui faitpasser lecyanure…Et là,dans lasolitudedesacellule, il semità rire.Uneaise
immense l’emplissait. Ce n’était plus lemur contre lequel ilmarchait. Il avait toute la nuit. Il
allaitpouvoir choisir…Sedire ‚Allons‘etpuis ‚Non,unmomentencore‘et savourer cemoment
…Quellerevanche!Queldémenti!“)
188 Jean-Paul Sartre: DieWand. In: Sartre: Die Kindheit eines Chefs. Erzählungen. Deutsch
vonUliAumüller. (GesammelteWerke inEinzelausgaben,RomaneundErzählungen 2.) Rein-
bek1985,S. 24.
189 Jean-PaulSartre:LeMur. In:Sartre:Œuvres romanesques,S. 211–233,hierS. 227.
180 6 StimmenderGegenwart:ExistentialistischeLiteratur
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur