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demMondseinLicht, demFriedenseineRuh.“196 IndieserSituationwirdnun,
wie inSartres„LeMur“,dieHinrichtungabgebrochen:
MeinHenker ist gegangen,wie einDieb ist er gegangenundhat denStrick vonmeinem
Hals gestohlen, ruft ihn zurück! Den Strick soll ermirwiedergeben, den roten Striemen
darf ermir nicht nehmen, bevor ich ihnnochhabe, die bloßeArmutdarfmir keiner aus
denHändenwinden!Bleibt, bleibt, schleicht euchnichtweg! Laßtmich jetztnicht allein
indergeschenktenTrauer, imScheinderGnade,diekeinErbarmenhat.197
Es hebt hier „die Gnade nicht das Urteil auf“198, der Effekt der verhinderten
Hinrichtung kommt dem einer Hinrichtung gleich. Verhandeln die genannten
TextevonSartre,CamusundDormitdemexistenzphilosophischenToposmehr
oderminderkonkretemenschlicheSchuldgefühledesVerrats,desUnterlassens
unddesDavonkommensklingtbeiAichingerdieÜberlebensschuldan,dievon
JeanAméryspäter inallerDeutlichkeit aufgegriffenwerden.Améry,Überleben-
der mehrerer Konzentrationslager, thematisiert in seinem Roman-Essay Lefeu
oder derAbbruch (1974) die Schuldgefühledes titelgebendenMalers Lefeu, der
sichweigert, seineverwahrlosteMansarde ineinemimAbrissbegriffenenPari-
serWohngebäude in der RueRoquentin (!)199 zu räumen.Mit demWiderstand
gegen „den Abbruch meiner Person und meines Hauses“200 richtet er sich
gegen das der allgemeinen Mentalität entsprechende Hinter-Sich-Lassen der
196 Ilse Aichinger: Rede unter dem Galgen. In: Aichinger: Der Gefesselte, S. 99–105, hier
S. 101, 104.
197 Aichinger:RedeunterdemGalgen,S. 104.
198 Aichinger:RedeunterdemGalgen,S. 105.Eindrücklich illustriert diesFranzKafka insei-
nem„BriefandenVater“ (1919) imHinblickaufeineausbleibendekörperlicheBestrafung:„Es
ist, wiewenn einer gehenktwerden soll.Wird erwirklich gehenkt, dann ist er tot und es ist
allesvorüber.WenneraberalleVorbereitungenzumGehenktwerdenmiterlebenmußunderst
wenn ihm die Schlinge vor demGesicht hängt, von seiner Begnadigung erfährt, so kann er
sein Leben langdaran zu leidenhaben.Überdies sammelte sich aus diesen vielenMalen,wo
ich Deiner deutlich gezeigten Meinung nach Prügel verdient hätte, ihnen aber aus Deiner
Gnade noch knapp entgangen war, wieder nur ein großes Schuldbewußtsein an.“ Franz
Kafka: Brief an denVater. In: Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II. In der Fas-
sungderHandschriften.Hg.vonJostSchillermeit.FrankfurtamMain1992,S. 168.
199 Zuden zahlreichen Sartre-Verweise imRoman cf. auch IvonnKappel: „In fremdenSpie-
gelnsehenwirdaseigeneBild“. JeanAmérysLefeuoderDerAbbruch.Würzburg2009.
200 Jean Améry: Lefeu oder Der Abbruch. Stuttgart 1982 [1974], S. 109. Giorgio Agamben
spricht inQuel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone (Homo sacer III. Torino 1998)
vonAmérysUnwillen, sichmit demErlittenen zu ‚arrangieren‘, imGegensatz zu dem ‚verge-
benden‘PrimoLevi,alseinerEthikdesRessentiments (eticadel risentimento).
182 6 StimmenderGegenwart:ExistentialistischeLiteratur
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur