Page - 196 - in Existentialismus in Österreich - Kultureller Transfer und literarische Resonanz
Image of the Page - 196 -
Text of the Page - 196 -
6.4 LittératureengagéezwischenSprachskepsisund
Engagement
In Frankreichmacht diemit demGenerationenwechsel nachKriegsende einset-
zende literarischeNeuordnungdas Engagement zur verpflichtendenHaltung.258
Demographische Faktoren, der Tod von Vorkriegsgrößen wie Jean Giraudoux
undRomainRollandunddasAusscheidenvonSchriftstellerInnenderKollabora-
tionwie Louis-Ferdinand Céline ebnen denWeg für Résistance-AutorInnenwie
Vercors, Sartre oder Camus, diemit einer gesteigertenSensibilität für dieMacht
desWortes die Literatur in ein Naheverhältnis zur Politik rücken.259 Bereits im
erstenHeft der Zeitschrift Les Tempsmodernes, die sichmit engagierten Texten
gegendie ‚reine‘Kunst der Zwischenkriegsära positioniert, kündigt SartresArti-
kel „LaNationalisation de la littérature“ seine später inQu’est-ce que la littéra-
ture?ausgeführtePoetikan:
Gewiß ist das geschriebeneWerk eine Tatsache, die die Allgemeinheit angeht, und der
Schriftstellermuß,nochehe er zur Feder greift, sichdessenvoll bewußt sein; ermußvon
seinerVerantwortlichkeitganzdurchdrungensein.Er ist fürallesverantwortlich: fürverlo-
reneundgewonneneKriege, fürAuflehnungundUnterdrückung;erunterstütztdenUnter-
drücker, wenn er nicht der natürliche Verbündete der Unterdrückten ist: Aber nicht nur
258 Cf.Dugast:LaSituationculturellede laFranceaprès1945,S.308.
259 Cf. Sapiro: La Guerre des écrivains, S. 561f. Es existieren diesbezüglich durchaus kriti-
schereEinschätzungen:TrotzdesErfolgesderRésistance-SchriftstellerInnenerkenntWajsbrot
eine literarische Kontinuität inWerken von Gide, Mauriac, Bernanos oder Claudel, die teils
ohne die geringste Infragestellung auskämen. Selbiges gelte nach 1945 für die Surrealisten,
dieweiterhin eine vomGrauendesKriegesunbetroffeneTraumwelt erforschten, einVorwurf,
denauchSartre inQu’est-ceque la littérature?aussprechenwird.Wajsbrot stimmtSartres lite-
raturtheoretischenForderungenzu,wirft aber auch ihmHeuchelei vor, dadasGeschehensei-
ner Roman-Trilogie Les Chemins de la liberté im entscheidenden Moment ende, statt sich
weitermit demPétain-Regimeauseinanderzusetzen (was Sartre allerdings in seinem1946ur-
aufgeführtenTheaterstückMorts sans sépulturenachholenwird; cf. Kap. 8.1).Wajsbrots Fazit
zuder inderLiteraturvorherrschendenNeigung,VichyausderGeschichteFrankreichsauszu-
klammern,weistParallelenzurösterreichischeSituationdieser Jahreauf:„DieLiteraturähnelt
der Gesellschaft, aus der sie stammt, und in den späten 1940er Jahren und amAnfang der
1950er Jahre hatten beide den gleichen offenkundigenWunsch zu reparieren, oder eher zu
kompensieren […], undweigerten sich beide, den Dingen ins Auge zu sehen. Letzten Endes
wurde trotzderSäuberung,diedie Illusionerweckt, sichderSituationgestellt zuhaben, alles
inEile erledigt, umdanachbesser zuvergessen.“ [Übers. d.Verf.] („La littérature ressemble à
la société dont elle est issue, et, dans la findes années 40, le débutdes années 50, on trouve
dans l’une et l’autre lemêmedésir apparent de réparer, plutôt de compenser […], et lemême
refus de voir les choses en face. Au bout du compte,malgré l’épuration qui donne l’illusion
d’avoir affronté la situation, tout s’est réglé à la hâte pourmieux oublier après.“)Wajsbrot:
Littérature: le romanenfuite,S.66,cf.S.62–63,65,67.
196 6 StimmenderGegenwart:ExistentialistischeLiteratur
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur