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rückgeworfene ‚Entwurzelte‘ in den narrativen Vordergrund. Aufgabe der
SchriftstellerInnen ist es nun laut Herbert Eisenreich, genau zu beobachten,
wie diese ‚Entwurzelten‘ auf Verengungen ihrer Freiheit reagieren, ob mit
„Flucht aus der Verantwortlichkeit“ oder indem sie sich mit „Ausreden aus
dem psychologischen Allgemeingut“ versorgen und ihr „schlechtes Verhal-
ten“274 noch imMoment des Erklärens für entschuldigt halten. Die Schriftstel-
lerInnen müssen, so Eisenreich weiter, ihre Zeit kennen, deren Tendenzen
aufspürenundHerkünfte erforschen, damit dieHeldinnen „nicht im luftleeren
Raum einer Fiktion agieren oder sichmit Problemen herumschlagen, die aus
den Museen der Historie gestohlen sind.“275 Auf diese Bemerkung trifft am
meisten Andreas Webers Urteil zu, Eisenreichs Stimmen der Gegenwart-Texte
„mutenwie bei Sartre bzw. Camus abgeschrieben an“276, was insofern bemer-
kenswert ist, als Eisenreich der existentialistischenProgrammatik einige Jahre
spätermit unmissverständlicher Ablehnung begegnenwird. 1961 notiert er, es
habesichdervonFrankreichausgehende„BegriffderengagiertenLiteratur“
in etlichen Köpfen eingenistet, und dieser Vogel läßt seine Exkremente seither in die
Spalten gewisser Zeitungen und Zeitschriften fallen, wo sie aber, zwischen heftiger
AversiongegendieAtombewaffnungdesWestensundmilderSympathie fürdiedesOs-
tens, nicht weiter stören. Wir verzichten daher auf jede naheliegende Polemik gegen
dieseVerwechslungvonPolitikundLiteratur, vondirekterund indirekterWirksamkeit,
und behaupten bloß, daß des Schriftstellers Humanität sich weitaus umfassender äu-
ßere als durch politisches Engagement, nämlich durch sein Ja zur vollen und ganzen
Wirklichkeit.277
Für diesen literarischen Umgang mit der Wirklichkeit verwendet Eisenreich in
einem anderen Aufsatz, „Literatur und Politik?“ (1959), durchaus den Begriff
Politik:
SeitGrillparzermühensichnahezualleDichterumdasPolitische,dasheißtumdieüberin-
dividuellen, die allgemeinen VoraussetzungenmenschlichenDaseins. Manwird uns nun
aberdaranerinnern,daßdiegroßenösterreichischenDichterkaumje indaspolitischeGe-
schehen ihrer Zeit eingegriffen haben, sehr imGegensatz etwa zum ‚JungenDeutschland‘
kolb (Hg.): Zukunft mit Altlasten. Die UniversitätWien 1945 bis 1955. (Querschnitte 19.) Inns-
brucketal. 2005,S.212–222.
274 Herbert Eisenreich: DasHerz unddieDrüsen. In: Stimmender Gegenwart, 1952, S. 184–
191,hierS. 188.
275 Eisenreich:DasHerzunddieDrüsen,S. 185.
276Weber:StimmenderGegenwart,eineAnthologie,S. 24.
277 Herbert Eisenreich: Der Roman. KeineRede vonder Krise (1961). In: Eisenreich: Reaktio-
nen,S.43–56,hierS.50.
200 6 StimmenderGegenwart:ExistentialistischeLiteratur
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur