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der französischenZwischenkriegszeit, inder lautSperber„dieFrage: ‚Wie?‘hun-
dertmal häufiger gestellt und in zahllosenVarianten beantwortet wurde als die
Frage ‚Wozu?‘und[…]manüberdas ‚Was‘scheinbar leichtfertighinwegging“292,
wendet sich der Existentialismus gegen die Prioritäten der Kunst umder Kunst
willen;nicht,weildas ‚Wie?‘ irrelevantwäre,sondernweildasästhetischeGefal-
len nur als Hinzukommendes seineWirkung voll entfalten könne, so Sartre in
Qu’est-ce que la littérature? („l’art pur et l’art vide sont unemême chose“293).
Diese Haltung ist nach 1945 auch in Österreich verbreitet, wie Maurice Besset
schildert:
Jetzt, wo der Krieg vorbei ist, kommt die Literatur, wenn nicht als Selbstzweck – die
„L’art pour l’art“-Ära ist ja vorbei – , so doch als selbstständigerWert wieder zu ihrem
Recht.Von ihr verlangtmannichtmehr, daß sieunmittelbar Stellungnimmt; bei der Ju-
gend ist sogar eine ziemlichdeutlicheBewegunggegendie allzuaufPolitikbezogeneLi-
teratur festzustellen. Das bedeutet aber keine Rückkehr zum verantwortungslosen
ÄsthetizismusderZwischenkriegszeit:manfordert imGegenteil vonderLiteratur,daßsie
„engagiert“ sei.DerBegriffdes„Engagements“, dervomHeideggerschen„Geworfensein“
abgeleitet ist,weistmehralsdiesesaufdiePflichtdesMenschenundvorallemdesDich-
tershin, sich seinerVerantwortungderMitwelt gegenüberbewußt zuwerden. Er ist zum
Schlagwortder jungenLiteraturgeworden.294
SartresBehauptung,niemandglaubemehr andieVerantwortungslosigkeit der
KunstumderKunstwillen („personnenecroitplusà l’irresponsabiliténià l’art
pour l’art“295), bestätigt sich nach 1945 besonders deutlich an Zeitschriften,
einerGattung, dieAlphonsSilbermannallein aufgrund ihresVerhältnisses zur
Aktualität schon als „engagierte Literatur“bezeichnet, da sie stets ein „Hauch
von Erneuerung, ein Bemühen um Fortschritt“296 umgibt, der üblicherweise
schon aus den im ersten Heft vorgestellten Grundsätzen hervorgeht (cf.
Kap. 4.3).HoheAnsprüchehat vor allemder geradeauch für l’art pour l’art-Li-
292 Sperber:BismanmirScherbenaufdieAugenlegt,S. 161.
293 Sartre:Qu’est-ceque la littérature?,S.32.
294 Besset: Jugend und Literatur in Frankreich, S. 923.Was Besset hier schon als allgemein
bekanntes Schlagwort präsentiert, sorgt zehn Jahre später bei Lilly vonSauter noch fürUnsi-
cherheit: Beauftragt, Francis Jeansons Sartre par lui-même (Paris 1955) zu übersetzen, wählt
sie lautUnterweger (L’Êtreou leNéant?,S. 287f.) fürdenBegriff„engagement“, dernichtaus-
reichend verbreitet sei, wie ihr Kurt Kusenberg vomRowohlt Verlagmitteilt, dasWort „Bin-
dung“. Dabei handle es sich, wie Feindt (Engagement, empathie, distanciation, S. 72)
herausstreicht, umeinemphatischverwendetesSchlüsselwort inkonservativenKulturkreisen
derNachkriegsrestauration („unmot-clé utilisé demanière emphatique par les cercles cultu-
relsconservateursde la restaurationd’après-guerre“).
295 Jean-PaulSartre:LaResponsabilitéde l’écrivain.Lagrasse1998 [1946],S. 39.
296 Silbermann:DieKulturzeitschriftalsLiteratur,S. 102, 104.
6.4 LittératureengagéezwischenSprachskepsisundEngagement 203
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur