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VorderdamitaufgeworfenenÜberlegung,„wemderMenschohneGottver-
antwortlichsei“163,ob– freinachdemimexistentialistischenKontextmehrfach
aufgegriffenenDostojewski-Satz–nunalleserlaubtsei, entfaltetderExistentia-
lismus seine ganze Verantwortungsdimension: als Philosophie, deren erster
Schritt es sei, denMenschen in den Besitz seiner selbst („en possession de ce
qu’il est“) und indie vollkommeneVerantwortung für seineExistenz zu setzen
(„de faire reposersur lui la responsabilité totaledesonexistence“164).Wasdem
Existentialismusalsovorgeworfenwerde, soSartre,könne inWirklichkeitnicht
Pessimismus, sondern nur eine optimistische Härte („une dureté optimiste“)
sein,nachderderMensch lediglichdas ist,wozuersichgemachthabenwird:
EinMensch engagiert sich in seinemLeben, zeichnet seinAntlitz, und außerhalb dieses
Antlitzes gibt esnichts.NatürlichkanndieserGedanke jemandem,demseinLebennicht
geglückt ist, hart erscheinen. Doch andererseits macht er dieMenschen bereit dafür zu
verstehen, daß allein dieWirklichkeit zählt, daß die Träume, Erwartungen, Hoffnungen
einenMenschennur als enttäuschten Traum, als fehlgeschlageneHoffnungen, als uner-
füllte Erwartungen zu definieren erlauben; das heißt, es definiert sie negativ und nicht
positiv.165
(Unhomme s’engage dans sa vie, dessine sa figure, et en dehors de cette figure il n’y a
rien. Évidemment, cette pensée peut paraître dure à quelqu’unqui n’apas réussi sa vie.
Maisd’autrepart, elledispose les gensàcomprendreque seule compte la réalité, que les
rêves, les attentes, les espoirs permettent seulement de définir un homme comme rêve
déçu, comme espoirs avortés, comme attentes inutiles; c’est-à-dire que ça les définit en
négatif etnonenpositif)166.
163 Eisenreich: DasHerz unddieDrüsen, S. 189. Badiou kommentiert diesbezüglich: „Wenn
Gott tot ist […], dann bedeutet das nicht, dass allesmöglich ist, und nochweniger, dass gar
nichts möglich ist. Es bedeutet, dass es ganz genau nichts Besseres, nichts Größeres und
nichtsWahreres gibt als dieAntworten, zudenenwir fähig sind.“ („SiDieu estmort […], cela
signifie, nonpasque tout est possible, encoremoinsque rienne l’est. Cela signifie qu’il n’ya
exactement rien demieux, rien de plus grand, rien de plus vrai que les réponses dont nous
sommes capables.“) Badiou: Das Abenteuer der französischen Philosophie seit den 1960ern,
S. 102f. (Badiou:L’Aventurede laphilosophie française,S. 107.)
164 Sartre:L’Existentialismeestunhumanisme,S.31.
165 Sartre:DerExistentialismus isteinHumanismus,S.162.
166 Sartre: L’Existentialisme est un humanisme, S.53. Dieser Passage verleiht Karl-Markus
Gauß imKapitel„AlsmeineMutter starb“eineeigeneDeutung:„Was ichvorvielen Jahrenbei
Sartre gelesenhabe, konnte ich langenurals geistreicheKaprice verstehen. Jetzt begreife ich.
Ja,wir sinddas,waswirnicht sind.Genaudies ist es,wasmichmeinesterbendeMutter lehrt:
Wir sinddas,wasnicht ausuns geworden ist undwogegenwir uns entschiedenhaben.Wor-
auf wir verzichtet haben, aus Dummheit oder Einsicht, aus Zwang oder freier Entscheidung,
geradedasmachtunsaus.“Gauß:Zufrüh,zuspät.Zwei Jahre.München2010,S.407f.
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Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur