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9 „Ein toterSartre isteinguterSartre“.
BilanzundAusblick
Solang er lebt, ist derMensch „der potentielleMensch“1, der sich erneuernde
Mensch.Von Identität könne jedenfalls keineRede sein, legtMichael Scharang
ganz auf Sartres Linie fest: „Nur im Tod stimmt das Ich vollkommenmit sich
überein.Denndas lebende Ichbewegt sichmit jederGefühlsregung,mit jedem
Gedanken,mit jederHandlungvonsichweg.“2AmEndebleibtvomIchdannein
BündelvonErlebnissen,dieGesamtheitseinerTaten(„l’unitédesesconduites“3),
dieauszulegenSachederLebendenist, zudenendasIchnichtmehrgehört.Post-
humdenAnderenüberantwortet–Sartre thematisiert dieseVereinnahmungvor
allemimDramaHuisclos–bestehtkeineSicherheit,dassdieHinterbliebenenim
SinnederVerblichenenwertenundhandeln.SietunesbeiSartreselbst jedenfalls
nicht, klagtGüntherNenning imFORVMmitBlickauf den „gewaltigenLeichen-
zug“ auf denPariser Boulevards, eine „unpassend etablierte Show“: „Gewissen-
haft bringen siedengroßenMannzumzweitenmalum,durchÜberschüttenmit
Lob.EintoterSartre isteinguterSartre.“4WasnachSartresTodam15.April 1980
in der österreichischen Presse geschieht, lässt sich zwar nur eingeschränkt als
Überschüttenmit Lobbezeichnen, dochaber alsGestedesVergebens. Vergeben
werdendieJahre, indenener indieIrregegangenist,geradeinWien.
KaumeinNachruf, gleichauswelchemTeildespolitischenSpektrums, lässt
diese Fehltritte unerwähnt. „Seine Widersprüchlichkeit darf uns seine Größe
nicht verkennen lassen“,mahnt inderprokommunistischenVolksstimmeArthur
West, der an Sartre die „mutigen gesellschaftlichen Engagements“ als „von
dauerndemWert“ lobt undder „überragendenPersönlichkeit“nur vorhält, sich
zuletzt wieder „in antisowjetische Positionen“5 verstrickt zu haben. Die bürger-
lich-liberale Presse nimmt auf Seite eins Abschied vom „Leitfossil“, das sich,
unbeeindruckt von „Erfolg, Kritik oder auch materielle[m] Wohlstand“, nie
scheute, „Irrtümer zuzugeben oder die Rolle eines politischen Harlekins vor-
nehmlich der linken Szene zu spielen“6. KurtWimmer von derKleinen Zeitung
1 Musil:DerMannohneEigenschaften,S. 251.
2 MichaelScharang:DasGeschwätzvonder Identität (1992). In: Scharang:BleibtPeymann in
WienoderkommtderKommunismuswieder,S. 114–124,hierS. 120.
3 Sartre:ÀProposde l’existentialisme,S.654.
4 Nenning:SanktSartre,S. 20,21.
5 ArthurWest: InmemoriamJean-PaulSartre. In:Volksstimme,17.04.1980.
6 ile:EinLeitfossil. In:DiePresse, 17.04.1980.
OpenAccess.©2021 JulianeWerner,publiziertvonWalterdeGruyter. DiesesWerkist
lizensiertuntereinerCreativeCommonsNamensnennung4.0InternationalLizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110683066-009
Existentialismus in Österreich
Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Title
- Existentialismus in Österreich
- Subtitle
- Kultureller Transfer und literarische Resonanz
- Author
- Juliane Werner
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-068306-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 378
- Category
- Kunst und Kultur