Page - 20 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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bleibt das Phänomen nach seiner psychologischen Seite eine Zufälligkeit, mag es auch eine
physiologische Erklärung gefunden haben. Wenn sich mir ein Versprechen ereignet, könnte ich
mich offenbar in unendlich vielen Weisen versprechen, für das eine richtige Wort eines von
tausend anderen sagen, ungezählt viele Entstellungen an dem richtigen Wort vornehmen. Gibt es
nun irgend etwas, was mir im besonderen Falle von allen möglichen gerade die eine Weise des
Versprechens aufdrängt, oder bleibt das Zufall, Willkür und läßt sich zu dieser Frage vielleicht
überhaupt nichts Vernünftiges vorbringen?
Zwei Autoren, Meringer und Mayer (ein Philologe und ein Psychiater), haben denn auch im Jahre
1895 den Versuch gemacht, die Frage des Versprechens von dieser Seite her anzugreifen. Sie
haben Beispiele gesammelt und zunächst nach rein deskriptiven Gesichtspunkten beschrieben.
Das gibt natürlich noch keine Erklärung, kann aber den Weg zu ihr finden lassen. Sie
unterscheiden die Entstellungen, welche die intendierte Rede durch das Versprechen erfährt, als:
Vertauschungen, Vorklänge, Nachklänge, Vermengungen (Kontaminationen) und Ersetzungen
(Substitutionen). Ich werde Ihnen von diesen Hauptgruppen der beiden Autoren Beispiele
vorführen. Ein Fall von Vertauschung ist es, wenn jemand sagt: Die Milo von Venus anstatt: Die
Venus von Milo (Vertauschung in der Reihenfolge der Worte); ein Vorklang: Es war mir auf der
Schwest… auf der Brust so schwer; ein Nachklang wäre der bekannte verunglückte Toast: Ich
fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen. Diese drei Formen des Versprechens
sind nicht gerade häufig. Weit zahlreicher werden Sie die Beobachtung finden, in denen das
Versprechen durch eine Zusammenziehung oder Vermengung entsteht, z. B. wenn ein Herr eine
Dame auf der Straße mit den Worten anspricht: Wenn Sie gestatten, mein Fräulein, möchte ich
Sie gerne begleit-digen. In dem Mischwort steckt außer Begleiten offenbar auch das Beleidigen.
(Nebenbei, der junge Mann wird bei der Dame nicht viel Erfolg gehabt haben.) Als eine
Ersetzung führen M. und M. den Fall an, daß einer sagt: Ich gebe die Präparate in den Briefkasten
anstatt Brütkasten u. dgl.
Der Erklärungsversuch, den die beiden Autoren auf ihre Sammlung von Beispielen gründen, ist
ganz besonders unzulänglich. Sie meinen, daß die Laute und Silben eines Wortes verschiedene
Wertigkeit haben und daß die Innervation des hochwertigen Elements die der minderwertigen
störend beeinflussen kann. Dabei fußen sie offenbar auf den an sich gar nicht so häufigen Vor-
und Nachklängen; für andere Erfolge des Versprechens kommen diese Lautbevorzugungen, wenn
sie überhaupt existieren, gar nicht in Betracht. Am häufigsten verspricht man sich doch, indem
man anstatt eines Wortes ein anderes, ihm sehr ähnliches sagt, und diese Ähnlichkeit genügt
vielen zur Erklärung des Versprechens. Zum Beispiel ein Professor in seiner Antrittsrede: Ich bin
nicht geneigt (geeignet), die Verdienste meines sehr geschätzten Vorgängers zu würdigen. Oder
ein anderer Professor: Beim weiblichen Genitale hat man trotz vieler Versuchungen… Pardon:
Versuche…
Die gewöhnlichste und auch die auffälligste Art des Versprechens ist aber die zum genauen
Gegenteil dessen, was man zu sagen beabsichtigt. Dabei kommt man natürlich von den
Lautbeziehungen und Ähnlichkeitswirkungen weit ab und kann sich zum Ersatz dafür darauf
berufen, daß Gegensätze eine starke begriffliche Verwandtschaft miteinander haben und einander
in der psychologischen Assoziation besonders nahestehen. Es gibt historische Beispiele dieser
Art: Ein Präsident unseres Abgeordnetenhauses eröffnete einmal die Sitzung mit den Worten:
Meine Herren, ich konstatiere die Anwesenheit von … Mitgliedern und erkläre somit die Sitzung
für geschlossen.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin