Page - 22 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Anzahl von ihnen, so wird unvermeidlich dieser Sinn der Fehlleistungen, von dem bisher noch
nicht die Rede war, für uns das Interessanteste werden und alle anderen Gesichtspunkte mit Recht
in den Hintergrund drängen. Wir können dann alle physiologischen oder psycho-physiologischen
Momente beiseite lassen und dürfen uns rein psychologischen Untersuchungen über den Sinn,
d. i. die Bedeutung, die Absicht der Fehlleistung hingeben. Wir werden es also nicht
verabsäumen, demnächst ein größeres Beobachtungsmaterial auf diese Erwartung zu prüfen.
Ehe wir aber diesen Vorsatz ausführen, möchte ich Sie einladen, mit mir eine andere Spur zu
verfolgen. Es ist wiederholt vorgekommen, daß ein Dichter sich des Versprechens oder einer
anderen Fehlleistung als Mittels der dichterischen Darstellung bedient hat. Diese Tatsache muß
uns für sich allein beweisen, daß er die Fehlleistung, das Versprechen z. B., für etwas Sinnvolles
hält, denn er produziert es ja absichtlich. Es geht doch nicht so vor, daß der Dichter sich zufällig
verschreibt und dann sein Verschreiben bei seiner Figur als ein Versprechen bestehen läßt. Er
will uns durch das Versprechen etwas zum Verständnis bringen, und wir können ja nachsehen,
was das sein mag, ob er uns etwa andeuten will, daß die betreffende Person zerstreut und ermüdet
ist oder eine Migräne zu erwarten hat. Natürlich wollen wir es nicht überschätzen, wenn das
Versprechen vom Dichter als sinnvoll gebraucht wird. Es könnte doch in Wirklichkeit sinnlos
sein, eine psychische Zufälligkeit oder nur in ganz seltenen Fällen sinnreich, und der Dichter
behielte das Recht, es durch die Ausstattung mit Sinn zu vergeistigen, um es für seine Zwecke zu
gebrauchen. Zu verwundern wäre es aber auch nicht, wenn wir über das Versprechen vom
Dichter mehr zu erfahren hätten als vom Philologen und vom Psychiater.
Ein solches Beispiel von Versprechen findet sich in Wallenstein (Piccolomini, erster Aufzug,
fünfter Auftritt). Max Piccolomini hat in der vorhergehenden Szene aufs leidenschaftlichste für
den Herzog Partei genommen und dabei von den Segnungen des Friedens geschwärmt, die sich
ihm auf seiner Reise enthüllt, während er die Tochter Wallensteins ins Lager begleitete. Er läßt
seinen Vater und den Abgesandten des Hofes, Questenberg, in voller Bestürzung zurück. Und
nun geht der fünfte Auftritt weiter:
Questenberg O weh uns! Steht es so?
Freund, und wir lassen ihn in diesem Wahn
Dahingehn, rufen ihn nicht gleich
Zurück, daß wir die Augen auf der Stelle
Ihm öffnen?
Octavio (aus einem tiefen Nachdenken zu sich kommend)
Mir hat er sie jetzt geöffnet,
Und mehr erblick ich, als mich freut.
Questenberg Was ist es, Freund?
Octavio Fluch über diese Reise!
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin