Page - 34 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Meine Damen und Herren! Ich könnte diese Sammlung von Beispielen ins Ungemessene
vermehren. Ich will es aber hier nicht tun. In meiner Psychopathologie des Alltagslebens (1901
zuerst erschienen) finden Sie ohnedies eine überreiche Kasuistik zum Studium der
Fehlleistungen[5]. Alle diese Beispiele ergeben immer wieder das nämliche; sie machen Ihnen
wahrscheinlich, daß Fehlleistungen einen Sinn haben, und zeigen Ihnen, wie man diesen Sinn aus
den Begleitumständen errät oder bestätigt. Ich fasse mich heute kürzer, weil wir uns ja auf die
Absicht eingeschränkt haben, aus dem Studium dieser Phänomene Gewinn für eine Vorbereitung
zur Psychoanalyse zu ziehen. Nur auf zwei Gruppen von Beobachtungen muß ich hier noch
eingehen, auf die gehäuften und kombinierten Fehlleistungen und auf die Bestätigung unserer
Deutungen durch später eintreffende Ereignisse.
Die gehäuften und kombinierten Fehlleistungen sind gewiß die höchste Blüte ihrer Gattung.
Käme es uns darauf an, zu beweisen, daß Fehlleistungen einen Sinn haben können, so hätten wir
uns von vorneherein auf sie beschränkt, denn bei ihnen ist der Sinn selbst für eine stumpfe
Einsicht unverkennbar und weiß sich dem kritischesten Urteil aufzudrängen. Die Häufung der
Äußerungen verrät eine Hartnäckigkeit, wie sie dem Zufall fast niemals zukommt, aber dem
Vorsatz gut ansteht. Endlich die Vertauschung der einzelnen Arten von Fehlleistung miteinander
zeigt uns, was das Wichtige und Wesentliche der Fehlleistung ist: nicht die Form derselben oder
die Mittel, deren sie sich bedient, sondern die Absicht, der sie selbst dient und die auf den
verschiedensten Wegen erreicht werden soll. So will ich Ihnen einen Fall von wiederholtem
Vergessen vorführen: E. Jones erzählt, daß er einmal aus ihm unbekannten Motiven einen Brief
mehrere Tage lang auf seinem Schreibtisch hatte liegen lassen. Endlich entschloß er sich dazu,
ihn aufzugeben, erhielt ihn aber vom »Dead letter office« zurück, denn er hatte vergessen, die
Adresse zu schreiben. Nachdem er ihn adressiert hatte, brachte er ihn zur Post, aber diesmal ohne
Briefmarke. Und nun mußte er sich die Abneigung, den Brief überhaupt abzusenden, endlich
eingestehen.
In einem anderen Falle kombiniert sich ein Vergreifen mit einem Verlegen. Eine Dame reist mit
ihrem Schwager, einem berühmten Künstler, nach Rom. Der Besucher wird von den in Rom
lebenden Deutschen sehr gefeiert und erhält unter anderem eine goldene Medaille antiker
Herkunft zum Geschenk. Die Dame kränkt sich darüber, daß ihr Schwager das schöne Stück
nicht genug zu schätzen weiß. Nachdem sie, von ihrer Schwester abgelöst, wieder zu Hause
angelangt ist, entdeckt sie beim Auspacken, daß sie die Medaille – sie weiß nicht wie –
mitgenommen hat. Sie teilt es sofort dem Schwager brieflich mit und kündigt ihm an, daß sie das
Entführte am nächsten Tage nach Rom zurückschicken wird. Am nächsten Tage aber ist die
Medaille so geschickt verlegt, daß sie unauffindbar und unabsendbar ist, und dann dämmert der
Dame, was ihre »Zerstreutheit« bedeute, nämlich, daß sie das Stück für sich selbst behalten
wolle[6].
Ich habe Ihnen schon früher ein Beispiel der Kombination eines Vergessens mit einem Irrtum
berichtet, wie jemand ein erstesmal ein Rendezvous vergißt und das zweitemal mit dem Vorsatz,
gewiß nicht zu vergessen, zu einer anderen als der verabredeten Stunde erscheint. Einen ganz
analogen Fall hat mir aus seinem eigenen Erleben ein Freund erzählt, der außer
wissenschaftlichen auch literarische Interessen verfolgt. Er sagt: »Ich habe vor einigen Jahren die
Wahl in den Ausschuß einer bestimmten literarischen Vereinigung angenommen, weil ich
vermutete, die Gesellschaft könnte mir einmal behilflich sein, eine Aufführung meines Dramas
durchzusetzen, und nahm regelmäßig, wenn auch ohne viel Interesse, an den jeden Freitag
stattfindenden Sitzungen teil. Vor einigen Monaten erhielt ich nun die Zusicherung einer
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin