Page - 53 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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etwas erleben. Die biologische Tendenz des Schlafes scheint also die Erholung zu sein, sein
psychologischer Charakter das Aussetzen des Interesses an der Welt. Unser Verhältnis zur Welt,
in die wir so ungern gekommen sind, scheint es mit sich zu bringen, daß wir sie nicht ohne
Unterbrechung aushalten. Wir ziehen uns darum zeitweise in den vorweltlichen Zustand zurück,
in die Mutterleibsexistenz also. Wir schaffen uns wenigstens ganz ähnliche Verhältnisse, wie sie
damals bestanden: warm, dunkel und reizlos. Einige von uns rollen sich noch zu einem engen
Paket zusammen und nehmen zum Schlafen eine ähnliche Körperhaltung wie im Mutterleibe ein.
Es sieht so aus, als hätte die Welt auch uns Erwachsene nicht ganz, nur zu zwei Dritteilen; zu
einem Drittel sind wir überhaupt noch ungeboren. Jedes Erwachen am Morgen ist dann wie eine
neue Geburt. Wir sprechen auch vom Zustand nach dem Schlaf mit den Worten: wir sind wie
neugeboren, wobei wir über das Allgemeingefühl des Neugeborenen eine wahrscheinlich sehr
falsche Voraussetzung machen. Es ist anzunehmen, daß dieser sich vielmehr sehr unbehaglich
fühlt. Wir sagen auch vom Geborenwerden: das Licht der Welt erblicken.
Wenn das der Schlaf ist, so steht der Traum überhaupt nicht auf seinem Programm, scheint
vielmehr eine unwillkommene Zutat. Wir meinen auch, daß der traumlose Schlaf der beste, der
einzig richtige ist. Es soll keine seelische Tätigkeit im Schlaf geben; rührt sich diese doch, so ist
uns eben die Herstellung des fötalen Ruhezustandes nicht gelungen; Reste von Seelentätigkeit
haben sich nicht ganz vermeiden lassen. Diese Reste, das wäre das Träumen. Dann scheint es
aber wirklich, daß der Traum keinen Sinn zu haben braucht. Bei den Fehlleistungen lag es anders;
es waren doch Tätigkeiten während des Wachens. Aber wenn ich schlafe, die seelische Tätigkeit
ganz eingestellt habe und nur gewisse Reste derselben nicht unterdrücken konnte, so ist es gar
nicht notwendig, daß diese Reste einen Sinn haben. Ich kann diesen Sinn sogar nicht brauchen,
da ja das übrige meines Seelenlebens schläft. Es kann sich da wirklich nur um zuckungsartige
Reaktionen handeln, nur um solche seelische Phänomene, die direkt auf somatischen Anreiz hin
erfolgen. Die Träume wären also die den Schlaf störenden Reste der seelischen Tätigkeit des
Wachens, und wir dürfen den Vorsatz fassen, das für die Psychoanalyse ungeeignete Thema
alsbald wieder zu verlassen.
Indes, wenn der Traum auch überflüssig ist, er existiert doch, und wir. können versuchen, uns
von dieser Existenz Rechenschaft zu geben. Warum schläft das Seelenleben nicht ein?
Wahrscheinlich, weil etwas der Seele keine Ruhe läßt. Es wirken Reize auf sie ein, und sie muß
darauf reagieren. Der Traum ist also die Art, wie die Seele auf die im Schlafzustand
einwirkenden Reize reagiert. Wir merken hier einen Zugang zum Verständnis des Traumes. Wir
können nun bei verschiedenen Träumen danach suchen, welches die Reize sind, die den Schlaf
stören wollen und auf die mit Träumen reagiert wird. Soweit hätten wir das erste Gemeinsame
aller Träume aufgearbeitet.
Gibt es noch ein anderes Gemeinsames? Ja, es ist unverkennbar, aber viel schwieriger zu erfassen
und zu beschreiben. Die seelischen Vorgänge im Schlaf haben auch einen ganz anderen
Charakter als die des Wachens. Man erlebt vielerlei im Traum und glaubt daran, während man
doch nichts erlebt als vielleicht den einen störenden Reiz. Man erlebt es vorwiegend in visuellen
Bildern; es können auch Gefühle dabei sein, auch Gedanken mittendurch, es können auch die
anderen Sinne etwas erleben, aber vorwiegend sind es doch Bilder. Ein Teil der Schwierigkeit
des Traumerzählens kommt daher, daß wir diese Bilder in Worte zu übersetzen haben. Ich könnte
es zeichnen, sagt uns der Träumer oft, aber ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Das ist nun
eigentlich keine reduzierte seelische Tätigkeit wie die des Schwachsinnigen im Vergleich zum
Genialen; es ist etwas qualitativ anderes, aber schwer zu sagen, worin der Unterschied liegt.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin