Page - 57 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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greifen, voneinander wieder loslassen, die alte Stellung wieder einnehmen und den ganzen
Vorgang von neuem machen« sieht, so ist die Deutung dieser Knabenreihen als der Zähne an und
für sich ansprechend, und sie scheint ihre volle Bekräftigung zu finden, wenn nach dieser Szene
der Träumer »sich einen langen Zahn aus dem Kiefer herauszieht«. Auch die Deutung von
»langen, schmalen, gewundenen Gängen« auf Darmreiz scheint stichhaltig und bestätigt die
Aufstellung von Scherner, daß der Traum vor allem das den Reiz ausschickende Organ durch ihm
ähnliche Gegenstände darzustellen sucht. Wir müssen also bereit sein zuzugeben, daß innere
Reize für den Traum dieselbe Rolle spielen können wie äußere. Leider unterliegt ihre Schätzung
auch denselben Einwendungen. In einer großen Anzahl von Fällen bleibt die Deutung auf
Leibreiz unsicher oder unbeweisbar; nicht alle Träume, sondern nur ein gewisser Anteil derselben
erweckt den Verdacht, daß innere Organreize bei ihrer Entstehung beteiligt waren, und endlich
wird der innere Leibreiz so wenig wie der äußere Sinnesreiz imstande sein, vom Traum mehr zu
erklären, als was der direkten Reaktion auf den Reiz entspricht. Woher dann das übrige des
Traumes kommt, bleibt dunkel.
Merken wir uns aber eine Eigentümlichkeit des Traumlebens, die bei dem Studium dieser
Reizeinwirkungen zum Vorschein kommt. Der Traum bringt den Reiz nicht einfach wieder,
sondern er verarbeitet ihn, er spielt auf ihn an, reiht ihn in einen Zusammenhang ein, ersetzt ihn
durch etwas anderes. Das ist eine Seite der Traumarbeit, die uns interessieren muß, weil sie
vielleicht näher an das Wesen des Traumes heranführt: Wenn jemand auf eine Anregung hin
etwas macht, so braucht diese Anregung darum das Werk nicht zu erschöpfen. Der Macbeth
Shakespeares z. B. ist ein Gelegenheitsstück, zur Thronbesteigung des Königs gedichtet, der
zuerst die Kronen der drei Länder auf seinem Haupt vereinigte. Aber deckt diese historische
Veranlassung den Inhalt des Dramas, erklärt sie uns dessen Größen und Rätsel? Vielleicht sind
die auf den Schlafenden wirkenden Außen- und Innenreize auch nur die Anreger des Traumes,
von dessen Wesen uns damit nichts verraten wird.
Das andere Gemeinsame des Traumes, seine psychische Besonderheit, ist einerseits schwer
faßbar und gibt anderseits keinen Anhaltspunkt zur weiteren Verfolgung. Im Traum erleben wir
zumeist etwas in visuellen Formen. Können dafür die Reize einen Aufschluß geben? Ist es in
Wirklichkeit der Reiz, den wir erleben? Warum ist dann das Erleben visuell, wenn Augenreizung
nur in den seltensten Fällen den Traum angeregt hat? Oder läßt sich, wenn wir Reden träumen,
nachweisen, daß während des Schlafes ein Gespräch oder ihm ähnliche Geräusche an unser Ohr
gedrungen sind? Diese Möglichkeit getraue ich mich mit Entschiedenheit abzuweisen.
Wenn wir von den Gemeinsamkeiten der Träume nicht weiterkommen, so wollen wir’s vielleicht
mit ihren Verschiedenheiten versuchen. Die Träume sind ja oft sinnlos, verworren, absurd; aber
es gibt sinnvolle, nüchterne, vernünftige. Sehen wir zu, ob uns die letzteren, sinnvollen, etwas
Aufschluß über die unsinnigen geben können. Ich teile Ihnen den letzten vernünftigen Traum mit,
der mir erzählt worden ist, den Traum eines jungen Mannes: »Ich bin in der Kärtnerstraße
spazierengegangen, habe dort den Herrn X. getroffen, dem ich mich für eine Weile angeschlossen
habe, dann bin ich ins Restaurant gegangen. Zwei Damen und ein Herr haben sich an meinen
Tisch gesetzt. Ich habe mich zuerst darüber geärgert und wollte sie nicht anschauen. Dann habe
ich hingeschaut und gefunden, daß sie ganz nett sind.« Der Träumer bemerkt dazu, daß er am
Abend vor dem Traum wirklich in der Kärntnerstraße gegangen, was sein gewohnter Weg ist,
und dort den Herrn X. getroffen hat. Der andere Teil des Traumes ist keine direkte Reminiszenz,
sondern hat nur eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Erlebnis vor längerer Zeit. Oder ein anderer
nüchterner Traum, der einer Dame: »Ihr Mann fragt: Soll man das Klavier nicht stimmen lassen?
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin