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bereits, daß der Vorgang der Traumbildung den nächtlichen Reiz aufheben und Befriedigung
bringen kann, denn auch das Tagträumen ist eine mit Befriedigung verbundene Tätigkeit und
wird ja nur dieser wegen gepflegt.
Aber nicht nur dieser, auch anderer Sprachgebrauch äußert sich in demselben Sinne. Bekannte
Sprichwörter sagen: das Schwein träumt von Eicheln, die Gans vom Mais; oder fragen: wovon
träumt das Huhn? von Hirse. Das Sprichwort steigt also noch weiter hinab als wir, vom Kind zum
Tier, und behauptet, der Inhalt des Traumes sei die Befriedigung eines Bedürfnisses. So viele
Redewendungen scheinen dasselbe anzudeuten, wie: »traumhaft schön«, »das wäre mir im Traum
nicht eingefallen«, »das habe ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt«. Es liegt da
eine offenbare Parteinahme des Sprachgebrauchs vor. Es gibt ja auch Angstträume und Träume
mit peinlichem oder indifferentem Inhalt, aber sie haben den Sprachgebrauch nicht angeregt. Er
kennt zwar »böse« Träume, aber der Traum schlechtweg ist ihm doch nur die holde
Wunscherfüllung. Es gibt auch kein Sprichwort, das uns versichern würde, das Schwein oder die
Gans träumen vom Geschlachtetwerden.
Es ist natürlich undenkbar, daß der wunscherfüllende Charakter des Traumes von den Autoren
über den Traum nicht bemerkt worden wäre. Dies ist vielmehr sehr oft der Fall gewesen, aber es
ist keinem von ihnen eingefallen, diesen Charakter als allgemeinen anzuerkennen und zum
Angelpunkt der Traumerklärung zu nehmen. Wir können uns wohl denken und werden auch
darauf eingehen, was sie davon abgehalten haben mag.
Sehen Sie nun aber, welche Fülle von Aufklärungen wir aus der Würdigung der Kinderträume
gewonnen haben, und das fast mühelos! Die Funktion des Traumes als Hüter des Schlafes, seine
Entstehung aus zwei konkurrierenden Tendenzen, von denen die eine konstant bleibt, das
Schlafverlangen, die andere einen psychischen Reiz zu befriedigen strebt, der Beweis, daß der
Traum ein sinnreicher, psychischer Akt ist, seine beiden Hauptcharaktere: Wunscherfüllung und
halluzinatorisches Erleben. Und dabei konnten wir fast vergessen, daß wir Psychoanalyse treiben.
Außer der Anknüpfung an die Fehlleistungen hatte unsere Arbeit kein spezifisches Gepräge.
Jeder Psychologe, der von den Voraussetzungen der Psychoanalyse nichts weiß, hätte diese
Aufklärung der Kinderträume geben können. Warum hat es keiner getan?
Gäbe es nur solche Träume wie die infantilen, so wäre das Problem gelöst, unsere Aufgabe
erledigt, und zwar ohne den Träumer auszufragen, ohne das Unbewußte heranzuziehen und ohne
die freie Assoziation in Anspruch zu nehmen. Nun hier liegt offenbar die Fortsetzung unserer
Aufgabe. Wir haben schon wiederholt die Erfahrung gemacht, daß Charaktere, die für allgemein
gültig ausgegeben waren, sich dann nur für eine gewisse Art und Anzahl von Träumen bestätigt
haben. Es handelt sich also für uns darum, ob die aus den Kinderträumen erschlossenen
allgemeinen Charaktere haltbarer sind, ob sie auch für jene Träume gelten, die nicht durchsichtig
sind, deren manifester Inhalt keine Beziehung zu einem erübrigten Tageswunsch erkennen läßt.
Wir haben die Auffassung, daß diese anderen Träume eine weitgehende Entstellung erfahren
haben und darum zunächst nicht zu beurteilen sind. Wir ahnen auch, zur Aufklärung dieser
Entstellung werden wir der psychoanalytischen Technik bedürfen, die wir für das eben
gewonnene Verständnis der Kinderträume entbehren konnten.
Es gibt jedenfalls noch eine Klasse von Träumen, die unentstellt sind und sich wie die
Kinderträume leicht als Wunscherfüllungen erkennen lassen. Es sind jene, die das ganze Leben
hindurch durch die imperativen Körperbedürfnisse hervorgerufen werden, den Hunger, den
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin