Page - 107 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Urteil gewonnen haben, welches Maß von Entstellung Platz gegriffen hat. Ein ähnlicher Zweifel
gilt für den Fall, daß zwei Elemente im Traum in nahe Beziehung zueinander gebracht scheinen.
Es kann darin ein wertvoller Wink enthalten sein, daß man auch das diesen Elementen im
latenten Traum Entsprechende zusammenfügen darf, aber andere Male kann man sich
überzeugen, daß, was in Gedanken zusammengehört, im Traum auseinandergerissen worden ist.
Im allgemeinen muß man sich dessen enthalten, einen Teil des manifesten Traumes aus einem
anderen erklären zu wollen, als ob der Traum kohärent konzipiert und eine pragmatische
Darstellung wäre. Er ist vielmehr zumeist einem Brecciagestein vergleichbar, aus verschiedenen
Gesteinsbrocken mit Hilfe eines Bindemittels hergestellt, so daß die Zeichnungen, die sich dabei
ergeben, nicht den ursprünglichen Gesteinseinschlüssen angehören. Es gibt wirklich ein Stück der
Traumarbeit, die sogenannte sekundäre Bearbeitung, dem daran gelegen ist, aus den nächsten
Ergebnissen der Traumarbeit etwas Ganzes, ungefähr Zusammenpassendes herzustellen. Dabei
wird das Material nach einem oft ganz mißverständlichen Sinn angeordnet und, wo es nötig
scheint, Einschübe vorgenommen.
Anderseits darf man auch die Traumarbeit nicht überschätzen, ihr nicht zuviel zutrauen. Mit den
aufgezählten Leistungen ist ihre Tätigkeit erschöpft; mehr als verdichten, verschieben, plastisch
darstellen und das Ganze dann einer sekundären Bearbeitung unterziehen, kann sie nicht. Was
sich im Traum von Urteilsäußerungen, von Kritik, Verwunderung, Folgerung findet, das sind
nicht Leistungen der Traumarbeit, nur sehr selten Äußerungen des Nachdenkens über den Traum,
sondern zumeist Stücke der latenten Traumgedanken, die mehr oder weniger modifiziert und dem
Zusammenhange angepaßt in den manifesten Traum übergetreten sind. Auch Reden komponieren
kann die Traumarbeit nicht. Bis auf wenige angebbare Ausnahmen sind die Traumreden
Nachbildungen und Zusammensetzungen von Reden, die man am Traumtag gehört oder selbst
gehalten hat und die als Material oder als Traumanreger in die latenten Gedanken eingetragen
worden sind. Ebensowenig kann die Traumarbeit Rechnungen anstellen; was sich davon im
manifesten Traum findet, sind zumeist Zusammenstellungen von Zahlen, Scheinrechnungen, als
Rechnungen ganz unsinnig und wiederum nur Kopien von Rechnungen in den latenten
Traumgedanken. Bei diesen Verhältnissen ist es auch nicht zu verwundern, daß das Interesse,
welches sich der Traumarbeit zugewendet hat, bald von ihr weg zu den latenten Traumgedanken
strebt, die sich mehr oder weniger entstellt durch den manifesten Traum verraten. Es ist aber
nicht zu rechtfertigen, wenn dieser Wandel so weit geht, daß man in der theoretischen
Betrachtung die latenten Traumgedanken an Stelle des Traumes überhaupt setzt und von
letzterem etwas aussagt, was nur für die ersteren gelten kann. Es ist sonderbar, daß die
Ergebnisse der Psychoanalyse für eine solche Verwechslung mißbraucht werden konnten.
»Traum« kann man nichts anderes nennen als das Ergebnis der Traumarbeit, d.
h. also die Form,
in welche die latenten Gedanken durch die Traumarbeit überführt worden sind.
Die Traumarbeit ist ein Vorgang ganz singulärer Art, dessengleichen bisher im Seelenleben nicht
bekannt geworden ist. Derartige Verdichtungen, Verschiebungen, regressive Umsetzungen von
Gedanken in Bilder sind Neuheiten, deren Erkenntnis die psychoanalytischen Bemühungen
bereits reichlich entlohnt. Sie entnehmen auch wiederum aus den Parallelen zur Traumarbeit,
welche Zusammenhänge der psychoanalytischen Studien mit anderen Gebieten, speziell mit der
Sprach- und Denkentwicklung, aufgedeckt werden. Die weitere Bedeutung dieser Einsichten
können Sie erst ahnen, wenn Sie erfahren, daß die Mechanismen der Traumbildung vorbildlich
für die Entstehungsweise der neurotischen Symptome sind.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin