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Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Page - 119 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)

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nicht notwendig wichtigen Erlebnissen der Kinderjahre, nicht einmal solchen, die vom Standpunkt des Kindes hätten wichtig erscheinen müssen. Sie sind oft so banal und an sich bedeutungslos, daß wir uns nur verwundert fragen, warum gerade diese Einzelheit dem Vergessen entgangen ist. Ich habe seinerzeit versucht, das Rätsel der Kindheitsamnesie und der sie unterbrechenden Erinnerungsreste mit Hilfe der Analyse anzugreifen, und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß doch auch beim Kinde nur das Wichtige in der Erinnerung übriggeblieben ist. Nur daß durch die Ihnen bereits bekannten Prozesse der Verdichtung und ganz besonders der Verschiebung dies Wichtige durch anderes, was unwichtig erscheint, in der Erinnerung vertreten ist. Ich habe diese Kindheitserinnerungen darum Deckerinnerungen genannt; man kann durch gründliche Analyse alles Vergessene aus ihnen entwickeln. In den psychoanalytischen Behandlungen ist ganz regelmäßig die Aufgabe gestellt, die infantile Erinnerungslücke auszufüllen, und insoferne die Kur überhaupt einigermaßen gelingt, also überaus häufig, bringen wir es auch zustande, den Inhalt jener vom Vergessen bedeckten Kindheitsjahre wieder ans Licht zu ziehen. Diese Eindrücke sind niemals wirklich vergessen gewesen, sie waren nur unzugänglich, latent, haben dem Unbewußten angehört. Es kommt aber auch spontan vor, daß sie aus dem Unbewußten auftauchen, und zwar geschieht es im Anschluß an Träume. Es zeigt sich, daß das Traumleben den Zugang zu diesen latenten, infantilen Erlebnissen zu finden weiß. Es sind schöne Beispiele hierfür in der Literatur verzeichnet, und ich selbst habe einen solchen Beitrag leisten können. Ich träumte einmal in einem gewissen Zusammenhange von einer Person, die mir einen Dienst geleistet haben mußte und die ich deutlich vor mir sah. Es war ein einäugiger Mann von kleiner Gestalt, dick, den Kopf tief in den Schultern steckend. Ich entnahm aus dem Zusammenhang, daß er ein Arzt war. Zum Glück konnte ich meine noch lebende Mutter befragen, wie der Arzt meines Geburtsortes, den ich mit drei Jahren verlassen, ausgesehen, und erfuhr von ihr, daß er einäugig war, kurz, dick, den Kopf tief in den Schultern steckend, lernte auch, bei welchem von mir vergessenen Unfall er mir Hilfe geleistet hatte. Diese Verfügung über das vergessene Material der ersten Kindheitsjahre ist also ein weiterer archaischer Zug des Traumes. Dieselbe Auskunft setzt sich nun auf ein anderes der Rätsel, auf die wir bisher gestoßen sind, fort. Sie erinnern sich, mit welchem Staunen es aufgenommen wurde, als wir zur Einsicht kamen, die Erreger der Träume seien energisch böse und ausschweifend sexuelle Wünsche, welche Traumzensur und Traumentstellung notwendig gemacht haben. Wenn wir einen solchen Traum dem Träumer gedeutet haben und er im günstigsten Falle die Deutung selbst nicht angreift, so stellt er doch regelmäßig die Frage, woher ihm ein solcher Wunsch komme, da er ihn doch als fremd empfinde und sich des Gegenteils davon bewußt sei. Wir brauchen nicht zu verzagen, diese Herkunft nachzuweisen. Diese bösen Wunschregungen stammen aus der Vergangenheit, oft aus einer Vergangenheit, die nicht allzuweit zurückliegt. Es läßt sich zeigen, daß sie einmal bekannt und bewußt waren, wenn sie es auch heute nicht mehr sind. Die Frau, deren Traum bedeutet, daß sie ihre einzige, jetzt 17jährige Tochter tot vor sich sehen möchte, findet unter unserer Anleitung, daß sie diesen Todeswunsch doch zu einer Zeit genährt hat. Das Kind ist die Frucht einer verunglückten, bald getrennten Ehe. Als sie die Tochter noch im Mutterleibe trug, schlug sie einmal nach einer heftigen Szene mit ihrem Manne im Wutanfall mit den Fäusten auf ihren Leib los, um das Kind darin zu töten. Wie viele Mütter, die ihre Kinder heute zärtlich, vielleicht überzärtlich lieben, haben sie doch ungerne empfangen und damals gewünscht, das Leben in ihnen möge sich nicht weiter entwickeln; ja sie haben auch diesen Wunsch in verschiedene, zum Glück unschädliche Handlungen umgesetzt. Der später so rätselhafte Todeswunsch gegen die geliebte Person stammt also aus der Frühzeit der Beziehung zu ihr. 119
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Schriften von Sigmund Freud (1856–1939)
Title
Schriften von Sigmund Freud
Subtitle
(1856–1939)
Author
Sigmund Freud
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
Size
21.6 x 28.0 cm
Pages
2789
Keywords
Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
Categories
Geisteswissenschaften
Medizin
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