Page - 123 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Ödipuskomplex der Dichtung überlassen, gleichsam zur freien Verfügung abgetreten wurde.
O. Rank hat in einer sorgfältigen Studie gezeigt, wie gerade der Ödipuskomplex der dramatischen
Dichtung reiche Motive in unendlichen Abänderungen, Abschwächungen und Verkleidungen
geliefert hat, in solchen Entstellungen also, wie wir sie bereits als Werk einer Zensur erkennen.
Diesen Ödipuskomplex dürfen wir also auch jenen Träumern zuschreiben, die so glücklich
waren, im späteren Leben den Konflikten mit ihren Eltern zu entgehen, und an ihn innig geknüpft
finden wir, was wir den Kastrationskomplex heißen, die Reaktion auf die dem Vater
zugeschriebene Sexualeinschüchterung oder Eindämmung der frühinfantilen Sexualtätigkeit.
Durch die bisherigen Ermittlungen auf das Studium des kindlichen Seelenlebens verwiesen,
dürfen wir nun auch die Erwartung hegen, daß die Herkunft des anderen Anteils der verbotenen
Traumwünsche, der exzessiven Sexualregungen, auf ähnliche Weise Aufklärung finden wird. Wir
empfangen also den Antrieb, auch die Entwicklung des kindlichen Sexuallebens zu studieren,
und erfahren hierbei aus mehreren Quellen folgendes: Es ist vor allem ein unhaltbarer Irrtum,
dem Kind ein Sexualleben abzusprechen und anzunehmen, daß die Sexualität erst zur Zeit der
Pubertät mit der Reifung der Genitalien einsetze. Das Kind hat im Gegenteile von allem Anfang
an ein reichhaltiges Sexualleben, welches sich von dem später als normal geltenden in vielen
Punkten unterscheidet. Was wir im Leben der Erwachsenen »pervers« nennen, weicht vom
Normalen in folgenden Stücken ab: erstens durch das Hinwegsetzen über die Artschranke (die
Kluft zwischen Mensch und Tier), zweitens durch die Überschreitung der Ekelschranke, drittens
der Inzestschranke (des Verbots, Sexualbefriedigung an nahen Blutsverwandten zu suchen),
viertens der Gleichgeschlechtlichkeit, und fünftens durch die Übertragung der Genitalrolle an
andere Organe und Körperstellen. Alle diese Schranken bestehen nicht von Anfang an, sondern
werden erst allmählich im Laufe der Entwicklung und der Erziehung aufgebaut. Das kleine Kind
ist frei von ihnen. Es kennt noch keine arge Kluft zwischen Mensch und Tier; der Hochmut, mit
dem sich der Mensch vom Tier absondert, wächst ihm erst später zu. Es zeigt anfänglich keinen
Ekel vor dem Exkrementellen, sondern erlernt diesen langsam unter dem Nachdruck der
Erziehung; es legt keinen besonderen Wert auf den Unterschied der Geschlechter, mutet vielmehr
beiden die gleiche Genitalbildung zu; es richtet seine ersten sexuellen Gelüste und seine
Neugierde auf die ihm nächsten und aus anderen Gründen liebsten Personen, Eltern, Geschwister,
Pflegepersonen, und endlich zeigt sich bei ihm, was späterhin auf der Höhe einer
Liebesbeziehung wieder durchbricht, daß es nicht nur von den Geschlechtsteilen Lust erwartet,
sondern daß viele andere Körperstellen dieselbe Empfindlichkeit für sich in Anspruch nehmen,
analoge Lustempfindungen vermitteln und somit die Rolle von Genitalien spielen können. Das
Kind kann also »polymorph pervers« genannt werden, und wenn es alle diese Regungen nur
spurweise betätigt, so kommt dies einerseits von deren geringer Intensität im Vergleiche zu
späteren Lebenszeiten, anderseits daher, daß die Erziehung alle sexuellen Äußerungen des Kindes
sofort energisch unterdrückt. Diese Unterdrückung setzt sich sozusagen in die Theorie fort,
indem die Erwachsenen sich bemühen, einen Anteil der kindlichen Sexualäußerungen zu
übersehen und einen anderen durch Umdeutung seiner sexuellen Natur zu entkleiden, bis sie dann
das Ganze ableugnen können. Es sind oft dieselben Leute, die erst in der Kinderstube hart gegen
alle sexuellen Unarten der Kinder wüten und dann am Schreibtisch die sexuelle Reinheit
derselben Kinder verteidigen. Wo Kinder sich selbst überlassen werden oder unter dem Einfluß
der Verführung, bringen sie oft ganz ansehnliche Leistungen perverser Sexualbetätigung
zustande. Natürlich haben die Erwachsenen recht, dies als »Kinderei« und »Spielerei« nicht
schwerzunehmen, denn das Kind ist weder vor dem Richterstuhl der Sitte noch vor dem Gesetz
als vollwertig und verantwortlich zu beurteilen, aber diese Dinge existieren doch, sie haben ihre
Bedeutung sowohl als Anzeichen mitgebrachter Konstitution sowie als Ursachen und
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin