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Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Page - 137 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)

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Zeit-, Eigenschaftswort ist, und es fehlen alle Abänderungen der Worte, durch welche man Geschlecht, Zahl, Endung, Zeit oder Modus erkennen könnte. Die Sprache besteht also sozusagen nur aus dem Rohmaterial, ähnlich wie unsere Denksprache durch die Traumarbeit in ihr Rohmaterial unter Hinweglassung des Ausdrucks der Relationen aufgelöst wird. Im Chinesischen wird in allen Fällen von Unbestimmtheit die Entscheidung dem Verständnis des Hörers überlassen, der sich dabei vom Zusammenhange leiten läßt. Ich habe mir ein Beispiel eines chinesischen Sprichwortes notiert, das wörtlich übersetzt lautet: Wenig was sehen viel was wunderbar. Das ist nicht schwer zu verstehen. Es mag heißen: Je weniger einer gesehen hat, desto mehr findet er zu bewundern, oder: Vieles gibt’s zu bewundern für den, der wenig gesehen hat. Eine Entscheidung zwischen diesen nur grammatikalisch verschiedenen Übersetzungen kommt natürlich nicht in Betracht. Trotz dieser Unbestimmtheiten, wird uns versichert, ist die chinesische Sprache ein ganz ausgezeichnetes Mittel des Gedankenausdrucks. Die Unbestimmtheit muß also nicht notwendig zur Vieldeutigkeit führen. Nun müssen wir freilich zugestehen, daß die Sachlage für das Ausdruckssystem des Traumes weit ungünstiger liegt als für alle diese alten Sprachen und Schriften. Denn diese sind doch im Grunde zur Mitteilung bestimmt, d.  h. darauf berechnet, auf welchen Wegen und mit welchen Hilfsmitteln immer verstanden zu werden. Gerade dieser Charakter geht aber dem Traume ab. Der Traum will niemandem etwas sagen, er ist kein Vehikel der Mitteilung, er ist im Gegenteile darauf angelegt, unverstanden zu bleiben. Darum dürften wir uns nicht verwundern und nicht irrewerden, wenn sich herausstellen sollte, daß eine Anzahl von Vieldeutigkeiten und Unbestimmtheiten des Traumes der Entscheidung entzogen bleibt. Als sicherer Gewinn unserer Vergleichung bleibt uns nur die Einsicht, daß solche Unbestimmtheiten, wie man sie als Einwand gegen die Triftigkeit unserer Traumdeutungen verwerten wollte, vielmehr regelmäßige Charaktere aller primitiven Ausdruckssysteme sind. Wie weit die Verständlichkeit des Traumes in Wirklichkeit reicht, läßt sich nur durch Übung und Erfahrung feststellen. Ich meine, sehr weit, und die Vergleichung der Resultate, welche sich korrekt geschulten Analytikern ergeben, bestätigt meine Ansicht. Das Laienpublikum, auch das wissenschaftliche Laienpublikum, gefällt sich bekanntlich darin, angesichts der Schwierigkeiten und Unsicherheiten einer wissenschaftlichen Leistung mit überlegener Skepsis zu prunken. Ich meine, mit Unrecht. Es ist Ihnen vielleicht nicht allen bekannt, daß sich eine ähnliche Situation in der Geschichte der Entzifferung der babylonisch-assyrischen Inschriften ergeben hat. Da gab es eine Zeit, zu welcher die öffentliche Meinung weit darin ging, die Keilschriftentzifferer für Phantasten und diese ganze Forschung für einen »Schwindel« zu erklären. Im Jahre 1857 machte aber die Royal Asiatic Society eine entscheidende Probe. Sie forderte vier der angesehensten Keilschriftforscher, Rawlinson, Hincks, Fox Talbot und Oppert, auf, ihr von einer neugefundenen Inschrift unabhängige Übersetzungen im versiegelten Kuvert einzusenden, und konnte nach der Vergleichung der vier Lesungen verkünden, die Übereinstimmung derselben gehe weit genug, um das Zutrauen in das bisher Erreichte und die Zuversicht auf weitere Fortschritte zu rechtfertigen. Der Spott der gelehrten Laienwelt nahm dann allmählich ein Ende, und die Sicherheit in der Lesung der Keilschriftdokumente ist seither außerordentlich gewachsen. 2. Eine zweite Reihe von Bedenken hängt tief an dem Eindruck, von dem wohl auch Sie nicht frei 137
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Schriften von Sigmund Freud (1856–1939)
Title
Schriften von Sigmund Freud
Subtitle
(1856–1939)
Author
Sigmund Freud
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
Size
21.6 x 28.0 cm
Pages
2789
Keywords
Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
Categories
Geisteswissenschaften
Medizin
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