Page - 140 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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nahm endlich Tyrus ein. Die Deutung, die gekünstelt genug aussieht, war unzweifelhaft die
richtige.
3. Ich kann mir vorstellen, daß es Ihnen einen besonderen Eindruck machen wird zu hören, daß
Einwendungen gegen unsere Auffassung des Traumes auch von solchen Personen erhoben
worden sind, die sich selbst längere Zeit als Psychoanalytiker mit der Deutung von Träumen
beschäftigt haben. Es wäre zu ungewöhnlich gewesen, daß ein so reichhaltiger Anreiz zu neuen
Irrtümern ungenützt geblieben wäre, und so haben sich durch begriffliche Verwechslungen und
unberechtigte Verallgemeinerungen Behauptungen ergeben, die hinter der medizinischen
Auffassung des Traumes an Unrichtigkeit nicht weit zurückstehen. Die eine davon kennen Sie
bereits. Sie sagt aus, daß sich der Traum mit Anpassungsversuchen an die Gegenwart und
Lösungsversuchen der Zukunftsaufgaben beschäftige, also eine »prospektive Tendenz« verfolge
(A. Maeder). Wir haben bereits angeführt, daß diese Behauptung auf Verwechslung des Traumes
mit den latenten Traumgedanken beruht, also das Übersehen der Traumarbeit zur Voraussetzung
hat. Als Charakteristik der unbewußten Geistestätigkeit, der die latenten Traumgedanken
angehören, ist sie einerseits keine Neuheit, anderseits nicht erschöpfend, denn die unbewußte
Geistestätigkeit beschäftigt sich mit vielem anderen neben der Vorbereitung der Zukunft. Eine
weit ärgere Verwechslung scheint der Versicherung zugrunde zu liegen, daß man hinter jedem
Traum die »Todesklausel« finde. Ich weiß nicht genau, was diese Formel besagen will, aber ich
vermute, hinter ihr steckt die Verwechslung des Traumes mit der ganzen Persönlichkeit des
Träumers.
Eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung aus wenigen guten Beispielen liegt in dem Satze, daß
jeder Traum zwei Deutungen zulasse, eine solche, wie wir sie aufgezeigt haben, die sogenannte
psychoanalytische, und eine andere, die sogenannte anagogische, welche von den Triebregungen
absieht und auf eine Darstellung der höheren Seelenleistungen hinzielt (H. Silberer). Es gibt
solche Träume, aber Sie werden diese Auffassung vergeblich auch nur auf eine Mehrzahl der
Träume auszudehnen versuchen. Ganz unbegreiflich wird Ihnen nach allem, was Sie gehört
haben, die Behauptung erscheinen, daß alle Träume bisexuell zu deuten seien, als
Zusammentreffen einer männlichen mit einer weiblich zu nennenden Strömung (A. Adler). Es
gibt natürlich auch einzelne solche Träume, und Sie könnten später erfahren, daß diese so gebaut
sind wie gewisse hysterische Symptome. Ich erwähne alle diese Entdeckungen neuer allgemeiner
Charaktere des Traumes, um Sie vor ihnen zu warnen oder um Sie wenigstens nicht im Zweifel
zu lassen, wie ich darüber urteile.
4. Eines Tages schien der objektive Wert der Traumforschung durch die Beobachtung in Frage
gestellt, daß die analytisch behandelten Patienten den Inhalt ihrer Träume nach den
Lieblingstheorien ihrer Ärzte einrichten, indem die einen vorwiegend von sexuellen
Triebregungen träumen, die anderen vom Machtstreben und noch andere sogar von der
Wiedergeburt (W. Stekel). Das Gewicht dieser Beobachtung wird durch die Erwägung verringert,
daß die Menschen bereits geträumt haben, ehe es eine psychoanalytische Behandlung gab, die
ihre Träume lenken konnte, und daß die jetzt in Behandlung Stehenden auch zur Zeit vor der
Behandlung zu träumen pflegten. Das Tatsächliche dieser Neuheit läßt sich bald als
selbstverständlich und für die Theorie des Traumes belanglos erkennen. Die den Traum
anregenden Tagesreste erübrigen von den starken Interessen des Wachlebens. Wenn die Reden
des Arztes und die Anregungen, die er gibt, für den Analysierten bedeutungsvoll geworden sind,
so treten sie in den Kreis der Tagesreste ein, können die psychischen Reize für die Traumbildung
abgeben wie die anderen affektbetonten unerledigten Interessen des Tages und wirken ähnlich
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin