Page - 149 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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nicht lösbar geworden sind, und anderen, die sich wegen der Ungunst der besonderen
Verhältnisse nicht lösen ließen. Z.
B. warum erliegt diese in glücklicher Ehe lebende Frau einer
Verliebtheit in ihren Schwiegersohn, und warum erfolgt die Erleichterung, die auch auf andere
Weise möglich wäre, in der Form einer solchen Spiegelung, einer Projektion ihres eigenen
Zustandes auf ihren Mann? Glauben Sie nicht, daß es müßig und mutwillig ist, solche Fragen
aufzuwerfen. Es steht uns bereits manches Material für eine mögliche Beantwortung derselben zu
Gebote. Die Frau befindet sich in dem kritischen Alter, das dem weiblichen Sexualbedürfnis eine
unerwünschte plötzliche Steigerung bringt; das mag für sich allein hinreichen. Oder es mag
hinzukommen, daß ihr guter und treuer Ehemann seit manchen Jahren nicht mehr im Besitze
jener sexuellen Leistungsfähigkeit ist, deren die wohlerhaltene Frau zu ihrer Befriedigung
bedürfte. Die Erfahrung hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß gerade solche Männer, deren
Treue dann selbstverständlich ist, sich durch besondere Zartheit in der Behandlung ihrer Frauen
und durch ungewöhnliche Nachsicht mit deren nervösen Beschwerden auszeichnen. Oder es ist
weiters nicht gleichgültig, daß es gerade der junge Ehemann einer Tochter ist, welcher zum
Objekt dieser pathogenen Verliebtheit wurde. Eine starke erotische Bindung an die Tochter, die
im letzten Grunde auf die Sexualkonstitution der Mutter zurückführt, findet oft den Weg dazu,
sich in solcher Umwandlung fortzusetzen. Ich darf Sie vielleicht in diesem Zusammenhange
daran erinnern, daß das Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn den Menschen
von jeher als ein besonders heikles gegolten und bei den Primitiven Anlaß zu sehr mächtigen
Tabuvorschriften und »Vermeidungen« gegeben hat[12]. Es geht häufig nach der positiven wie
nach der negativen Seite über das kulturell erwünschte Maß hinaus. Welches dieser drei
Momente nun in unserem Falle zur Wirkung gekommen ist, ob zwei davon, ob sie alle
zusammengetroffen sind, das kann ich Ihnen freilich nicht sagen, aber nur darum nicht, weil es
mir nicht gestattet war, die Analyse des Falles über die zweite Stunde hinaus fortzusetzen.
Ich merke jetzt, meine Herren, daß ich von lauter Dingen gesprochen habe, für die Ihr
Verständnis noch nicht vorbereitet ist. Ich tat es, um die Vergleichung der Psychiatrie mit der
Psychoanalyse durchzuführen. Aber eines darf ich Sie jetzt fragen: Haben Sie irgend etwas von
einem Widerspruch zwischen den beiden bemerkt? Die Psychiatrie wendet die technischen
Methoden der Psychoanalyse nicht an, sie unterläßt es, etwas an den Inhalt der Wahnidee
anzuknüpfen, und sie gibt uns im Hinweis auf die Heredität eine sehr allgemeine und entfernte
Ätiologie, anstatt zuerst die speziellere und näherliegende Verursachung aufzuzeigen. Aber liegt
darin ein Widerspruch, ein Gegensatz? Ist’s nicht vielmehr eine Vervollständigung? Widerspricht
denn das hereditäre Moment der Bedeutung des Erlebnisses, setzen sich nicht vielmehr beide in
der wirksamsten Weise zusammen? Sie werden mir zugeben, daß im Wesen der psychiatrischen
Arbeit nichts liegt, was sich gegen die psychoanalytische Forschung sträuben könnte. Die
Psychiater sind’s also, die sich der Psychoanalyse widersetzen, nicht die Psychiatrie. Die
Psychoanalyse verhält sich zur Psychiatrie etwa wie die Histologie zur Anatomie; die eine
studiert die äußeren Formen der Organe, die andere den Aufbau derselben aus den Geweben und
Elementarteilchen. Ein Widerspruch zwischen diesen beiden Arten des Studiums, von denen das
eine das andere fortsetzt, ist nicht gut denkbar. Sie wissen, die Anatomie gilt uns heute als die
Grundlage einer wissenschaftlichen Medizin, aber es gab eine Zeit, in der es ebenso verboten
war, menschliche Leichen zu zerlegen, um den inneren Bau des Körpers kennenzulernen, wie es
heute verpönt erscheint, Psychoanalyse zu üben, um das innere Getriebe des Seelenlebens zu
erkunden. Und voraussichtlich bringt uns eine nicht zu ferne Zeit die Einsicht, daß eine
wissenschaftlich vertiefte Psychiatrie nicht möglich ist ohne eine gute Kenntnis der
tieferliegenden, der unbewußten Vorgänge im Seelenleben.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin