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17. Vorlesung
Der Sinn der Symptome
Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen im vorigen Vortrag auseinandergesetzt, daß die
klinische Psychiatrie sich um die Erscheinungsform und den Inhalt des einzelnen Symptoms
wenig bekümmert, daß aber die Psychoanalyse gerade hier angesetzt und zunächst festgestellt
hat, das Symptom sei sinnreich und hänge mit dem Erleben des Kranken zusammen. Der Sinn der
neurotischen Symptome ist zuerst von J. Breuer aufgedeckt worden durch das Studium und die
glückliche Herstellung eines seither berühmt gewordenen Falles von Hysterie (1880–82). Es ist
richtig, daß P. Janet unabhängig denselben Nachweis erbracht hat; dem französischen Forscher
gebührt sogar die literarische Priorität, denn Breuer hat seine Beobachtung erst mehr als ein
Dezennium später (1893–95) während der Mitarbeiterschaft mit mir veröffentlicht. Es mag uns
übrigens ziemlich gleichgültig sein, von wem diese Entdeckung herrührt, denn Sie wissen, jede
Entdeckung wird mehr als einmal gemacht, und keine wird auf einmal gemacht, und der Erfolg
geht ohnedies nicht mit dem Verdienst. Amerika heißt nicht nach Kolumbus. Vor Breuer und
Janet hat der große Psychiater Leuret die Meinung ausgesprochen, selbst die Delirien der
Geisteskranken müßten sich als sinnvoll erkennen lassen, wenn wir erst verstünden, sie zu
übersetzen. Ich gestehe, daß ich lange Zeit bereit war, das Verdienst P. Janets an der Aufklärung
der neurotischen Symptome sehr hoch anzuschlagen, weil er sie als Äußerungen von idées
inconscientes auffaßte, welche die Kranken beherrschten. Aber Janet hat sich seitdem in
übergroßer Zurückhaltung so geäußert, als ob er bekennen wollte, daß das Unbewußte für ihn
weiter nichts gewesen sei als eine Redensart, ein Behelf, une façon de parler; er habe an nichts
Reales dabei gedacht. Seither verstehe ich Janets Ausführungen nicht mehr, ich meine aber, daß
er sich überflüssigerweise um viel Verdienst geschädigt hat.
Die neurotischen Symptome haben also ihren Sinn wie die Fehlleistungen, wie die Träume und
so wie diese ihren Zusammenhang mit dem Leben der Personen, die sie zeigen. Ich möchte Ihnen
nun diese wichtige Einsicht durch einige Beispiele näherbringen. Daß es immer und in allen
Fällen so ist, kann ich ja nur behaupten, nicht beweisen. Wer selbst Erfahrungen sucht, wird sich
davon die Überzeugung verschaffen. Ich werde aber diese Beispiele aus gewissen Motiven nicht
der Hysterie entnehmen, sondern einer anderen, höchst merkwürdigen, ihr im Grunde sehr
nahestehenden Neurose, von der ich Ihnen einige einleitende Worte zu sagen habe. Diese, die
sogenannte Zwangsneurose, ist nicht so populär wie die allbekannte Hysterie; sie ist, wenn ich
mich so ausdrücken darf, nicht so aufdringlich lärmend, benimmt sich mehr wie eine
Privatangelegenheit des Kranken, verzichtet fast völlig auf Erscheinungen am Körper und schafft
alle ihre Symptome auf seelischem Gebiet. Die Zwangsneurose und die Hysterie sind diejenigen
Formen neurotischer Erkrankung, auf deren Studium die Psychoanalyse zunächst aufgebaut
wurde, in deren Behandlung unsere Therapie auch ihre Triumphe feiert. Aber die
Zwangsneurose, welcher jener rätselhafte Sprung aus dem Seelischen ins Körperliche abgeht, ist
uns durch die psychoanalytische Bemühung eigentlich durchsichtiger und heimlicher geworden
als die Hysterie, und wir haben erkannt, daß sie gewisse extreme Charaktere der Neurotik weit
greller zur Erscheinung bringt.
Die Zwangsneurose äußert sich darin, daß die Kranken von Gedanken beschäftigt werden, für die
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin