Page - 152 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
Image of the Page - 152 -
Text of the Page - 152 -
sie sich eigentlich nicht interessieren, Impulse in sich verspüren, die ihnen sehr fremdartig
vorkommen, und zu Handlungen veranlaßt werden, deren Ausführung ihnen zwar kein
Vergnügen bereitet, deren Unterlassung ihnen aber ganz unmöglich ist. Die Gedanken
(Zwangsvorstellungen) können an sich unsinnig sein oder auch nur für das Individuum
gleichgültig, oft sind sie ganz und gar läppisch, in allen Fällen sind sie der Ausgang einer
angestrengten Denktätigkeit, die den Kranken erschöpft und der er sich nur sehr ungern hingibt.
Er muß gegen seinen Willen grübeln und spekulieren, als ob es sich um seine wichtigsten
Lebensaufgaben handelte. Die Impulse, die der Kranke in sich verspürt, können gleichfalls einen
kindischen und unsinnigen Eindruck machen, meist haben sie aber den schreckhaftesten Inhalt
wie Versuchungen zu schweren Verbrechen, so daß der Kranke sie nicht nur als fremd
verleugnet, sondern entsetzt vor ihnen flieht und sich durch Verbote, Verzichte und
Einschränkungen seiner Freiheit vor ihrer Ausführung schützt. Dabei dringen sie niemals, aber
wirklich kein einziges Mal, zur Ausführung durch; der Erfolg ist immer, daß die Flucht und die
Vorsicht siegen. Was der Kranke wirklich ausführt, die sogenannten Zwangshandlungen, das sind
sehr harmlose, sicherlich geringfügige Dinge, meist Wiederholungen, zeremoniöse Verzierungen
an Tätigkeiten des gewöhnlichen Lebens, wodurch aber diese notwendigen Verrichtungen, das
Zubettegehen, das Waschen, Toilettemachen, Spazierengehen zu höchst langwierigen und kaum
lösbaren Aufgaben werden. Die krankhaften Vorstellungen, Impulse und Handlungen sind in den
einzelnen Formen und Fällen der Zwangsneurose keineswegs zu gleichen Anteilen vermengt;
vielmehr ist es Regel, daß das eine oder das andere dieser Momente das Bild beherrscht und der
Krankheit den Namen gibt, aber das Gemeinsame all dieser Formen ist unverkennbar genug.
Das ist doch gewiß ein tolles Leiden. Ich glaube, der ausschweifendsten psychiatrischen
Phantasie wäre es nicht gelungen, etwas dergleichen zu konstruieren, und wenn man es nicht alle
Tage vor sich sehen könnte, würde man sich nicht entschließen, daran zu glauben. Nun denken
Sie aber nicht, daß Sie dem Kranken etwas leisten, wenn Sie ihm zureden, sich abzulenken, sich
nicht mit diesen dummen Gedanken zu beschäftigen und an Stelle seiner Spielereien etwas
Vernünftiges zu tun. Das möchte er selbst, denn er ist vollkommen klar, teilt Ihr Urteil über seine
Zwangssymptome, ja er trägt es Ihnen entgegen. Er kann nur nicht anders; was sich bei der
Zwangsneurose zur Tat durchsetzt, das wird von einer Energie getragen, für die uns
wahrscheinlich der Vergleich aus dem normalen Seelenleben abgeht. Er kann nur eines:
verschieben, vertauschen, anstatt der einen dummen Idee eine andere, irgendwie abgeschwächte
setzen, von einer Vorsicht oder Verbot zu einem anderen fortschreiten, anstatt des einen
Zeremoniells ein anderes ausführen. Er kann den Zwang verschieben, aber nicht aufheben. Die
Verschiebbarkeit aller Symptome, weit von ihrer ursprünglichen Gestaltung weg, ist ein
Hauptcharakter seiner Krankheit; außerdem fällt es auf, daß die Gegensätze (Polaritäten), von
denen das Seelenleben durchzogen ist, in seinem Zustand besonders scharf gesondert
hervortreten. Neben dem Zwang mit positivem und negativem Inhalt macht sich auf
intellektuellem Gebiet der Zweifel geltend, der allmählich auch das für gewöhnlich Gesichertste
annagt. Das Ganze läuft in eine immer mehr zunehmende Unentschlossenheit, Energielosigkeit,
Freiheitsbeschränkung aus. Dabei ist der Zwangsneurotiker ursprünglich ein sehr energisch
angelegter Charakter gewesen, oft von außerordentlichem Eigensinn, in der Regel über das
durchschnittliche Maß intellektuell begabt. Er hat es zumeist zu einer erfreulichen Höhe der
ethischen Entwicklung gebracht, zeigt sich übergewissenhaft, mehr als gewöhnlich korrekt. Sie
können sich denken, daß ein tüchtiges Stück Arbeit dazugehört, bis man sich in diesem
widerspruchsvollen Ensemble von Charaktereigenschaften und Krankheitssymptomen halbwegs
zurechtgefunden hat. Wir streben auch vorläufig gar nichts anderes an, als einige Symptome
dieser Krankheit zu verstehen, deuten zu können.
152
back to the
book Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)"
Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin