Page - 156 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Fußende ganz dick wird, dann aber versäumt sie es nicht, diese Anhäufung durch Zerdrücken
wieder zu verteilen.
Lassen Sie mich die anderen, oft sehr kleinlichen Einzelheiten dieses Zeremoniells übergehen; sie
würden uns nichts Neues lehren und zu weit von unseren Absichten abführen. Aber übersehen
Sie nicht, daß dies alles sich nicht so glatt vollzieht. Es ist immer die Sorge dabei, daß nicht alles
ordentlich gemacht worden ist; es muß nachgeprüft, wiederholt werden, der Zweifel zeichnet
bald die eine, bald die andere der Sicherungen aus, und der Erfolg ist, daß ein bis zwei Stunden
hingebracht werden, während welcher das Mädchen selbst nicht schlafen kann und die
eingeschüchterten Eltern nicht schlafen läßt.
Die Analyse dieser Quälereien ging nicht so einfach vonstatten wie die der Zwangshandlung bei
unserer früheren Patientin. Ich mußte dem Mädchen Andeutungen geben und Vorschläge zur
Deutung machen, die von ihr jedesmal mit einem entschiedenen Nein abgelehnt oder mit
geringschätzigem Zweifel aufgenommen wurden. Aber auf diese erste ablehnende Reaktion
folgte eine Zeit, in welcher sie sich selbst mit den ihr vorgelegten Möglichkeiten beschäftigte,
Einfälle zu ihnen sammelte, Erinnerungen produzierte, Zusammenhänge herstellte, bis sie alle
Deutungen aus eigener Arbeit angenommen hatte. In dem Maße, als dies geschah, ließ sie auch in
der Ausführung der Zwangsmaßregeln nach, und noch vor Ende der Behandlung hatte sie auf das
gesamte Zeremoniell verzichtet. Sie müssen auch wissen, daß die analytische Arbeit, wie wir sie
heute ausführen, die konsequente Bearbeitung des einzelnen Symptoms, bis man mit dessen
Aufhellung zu Ende gekommen ist, geradezu ausschließt. Man ist vielmehr genötigt, das eine
Thema immer wieder zu verlassen, und ist sicher, von anderen Zusammenhängen her von neuem
darauf zurückzukommen. Die Symptomdeutung, die ich Ihnen jetzt mitteilen werde, ist also eine
Synthese von Ergebnissen, deren Förderung sich, von anderen Arbeiten unterbrochen, über die
Zeit von Wochen und Monaten erstreckt.
Unsere Patientin lernt allmählich verstehen, daß sie die Uhr als Symbol des weiblichen Genitales
aus ihren Zurüstungen für die Nacht verbannt hatte. Die Uhr, für die wir sonst auch andere
Symboldeutungen kennen, gelangt zu dieser genitalen Rolle durch ihre Beziehung zu
periodischen Vorgängen und gleichen Intervallen. Eine Frau kann etwa von sich rühmen, ihre
Menstruation benehme sich so regelmäßig wie ein Uhrwerk. Die Angst unserer Patientin richtete
sich aber besonders dagegen, durch das Ticken der Uhr im Schlaf gestört zu werden. Das Ticken
der Uhr ist dem Klopfen der Klitoris bei sexueller Erregung gleichzusetzen. Durch diese ihr nun
peinliche Empfindung war sie in der Tat wiederholt aus dem Schlafe geweckt worden, und jetzt
äußerte sich diese Erektionsangst in dem Gebot, welches gehende Uhren zur Nachtzeit aus ihrer
Nähe entfernen hieß. Blumentöpfe und Vasen sind wie alle Gefäße gleichfalls weibliche
Symbole. Die Vorsicht, daß sie nicht zur Nachtzeit fallen und zerbrechen, entbehrt also nicht
eines guten Sinnes. Wir kennen die vielverbreitete Sitte, daß bei Verlobungen ein Gefäß oder
Teller zerschlagen wird. Jeder der Anwesenden eignet sich ein Bruchstück an, welches wir als
Ablösung seiner Ansprüche an die Braut auf dem Standpunkt einer Eheordnung vor der
Monogamie auffassen dürfen. Zu diesem Stück ihres Zeremoniells brachte das Mädchen auch
eine Erinnerung und mehrere Einfälle. Sie war einmal als Kind mit einem Glas- oder Tongefäß
hingefallen, hatte sich in die Finger geschnitten und heftig geblutet. Als sie heranwuchs und von
den Tatsachen des Sexualverkehrs Kenntnis bekam, stellte sich die ängstliche Idee bei ihr ein, sie
werde in der Hochzeitsnacht nicht bluten und sich nicht als Jungfrau erweisen. Ihre Vorsichten
gegen das Zerbrechen der Vasen bedeuten also eine Abweisung des ganzen Komplexes, der mit
der Virginität und dem Bluten beim ersten Verkehr zusammenhängt, ebensowohl eine
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin