Page - 159 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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die einer leichten historischen Zurückführung zu widerstreben scheinen. Vergessen wir nicht, es
sind ja diese typischen Symptome, nach denen wir uns für die Stellung der Diagnose orientieren.
Haben wir nun wirklich in einem Falle von Hysterie ein typisches Symptom auf ein Erlebnis oder
auf eine Kette von ähnlichen Erlebnissen zurückgeführt, z. B. ein hysterisches Erbrechen auf eine
Folge von Ekeleindrücken, so werden wir irre, wenn uns die Analyse in einem anderen Fall von
Erbrechen eine durchaus andersartige Reihe von angeblich wirksamen Erlebnissen aufdeckt. Es
sieht dann bald so aus, als müßten die Hysterischen aus unbekannten Gründen Erbrechen äußern,
und die von der Analyse gelieferten historischen Anlässe seien nur Vorwände, die von dieser
inneren Notwendigkeit verwendet werden, wenn sie sich zufällig ergeben.
So kommen wir bald zur betrübenden Einsicht, daß wir zwar den Sinn der individuellen
neurotischen Symptome durch die Beziehung zum Erleben befriedigend aufklären können, daß
uns aber unsere Kunst für die weit häufigeren typischen Symptome derselben im Stiche läßt.
Dazu kommt, daß ich Sie noch gar nicht mit allen Schwierigkeiten vertraut gemacht habe, die
sich bei der konsequenten Verfolgung der historischen Symptomdeutung herausstellen. Ich will
es auch nicht tun, denn ich habe zwar die Absicht, Ihnen nichts zu beschönigen oder zu
verhehlen, aber ich darf Sie doch nicht zu Beginn unserer gemeinsamen Studien ratlos machen
und in Verwirrung bringen. Es ist richtig, daß wir erst den Anfang zu einem Verständnis der
Symptombedeutung gemacht haben, aber wir wollen an dem Gewonnenen festhalten und uns
schrittweise zur Bewältigung des noch Unverstandenen durchringen. Ich versuche es also, Sie mit
der Überlegung zu trösten, daß eine fundamentale Verschiedenheit zwischen der einen und der
anderen Art von Symptomen doch kaum anzunehmen ist. Hängen die individuellen Symptome so
unverkennbar vom Erleben des Kranken ab, so bleibt für die typischen Symptome die
Möglichkeit, daß sie auf ein Erleben zurückgehen, das an sich typisch, allen Menschen
gemeinsam ist. Andere in der Neurose regelmäßig wiederkehrende Züge mögen allgemeine
Reaktionen sein, welche den Kranken durch die Natur der krankhaften Veränderung
aufgezwungen werden, wie das Wiederholen oder das Zweifeln der Zwangsneurose. Kurz, wir
haben keinen Grund zum vorzeitigen Verzagen; wir werden ja sehen, was sich weiter ergibt.
Vor einer ganz ähnlichen Schwierigkeit stehen wir auch in der Traumlehre. Ich konnte sie in
unseren früheren Besprechungen über den Traum nicht behandeln. Der manifeste Inhalt der
Träume ist ja ein höchst mannigfaltiger und individuell verschiedener, und wir haben ausführlich
gezeigt, was man aus diesem Inhalt durch die Analyse gewinnt. Aber daneben gibt es Träume,
die man gleichfalls »typische« heißt, die bei allen Menschen in gleicher Weise vorkommen,
Träume von gleichförmigem Inhalt, welche der Deutung dieselben Schwierigkeiten
entgegensetzen. Es sind dies die Träume vom Fallen, Fliegen, Schweben, Schwimmen,
Gehemmtsein, vom Nacktsein und andere gewisse Angstträume, die uns bald diese, bald jene
Deutung bei einzelnen Personen ergeben, ohne daß die Monotonie und das typische Vorkommen
derselben dabei seine Aufklärung fände. Auch bei diesen Träumen beobachten wir aber, daß ein
gemeinsamer Untergrund durch individuell wechselnde Zutaten belebt wird, und wahrscheinlich
werden auch sie sich in das Verständnis des Traumlebens, das wir an den anderen Träumen
gewonnen haben, ohne Zwang, aber unter Erweiterung unserer Einsichten einfügen lassen.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin