Page - 160 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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18. Vorlesung
Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte
Meine Damen und Herren! Ich sagte das letztemal, wir wollten die Fortsetzung unserer Arbeit
nicht an unsere Zweifel, sondern an unsere Funde anknüpfen. Zwei der interessantesten
Folgerungen, die sich aus den zwei vorbildlichen Analysen ableiten, haben wir überhaupt noch
nicht ausgesprochen.
Fürs erste: Beide Patienten machen uns den Eindruck, als wären sie an ein bestimmtes Stück ihrer
Vergangenheit fixiert, verständen nicht davon freizukommen und seien deshalb der Gegenwart
und der Zukunft entfremdet. Sie stecken nun in ihrer Krankheit, wie man sich in früheren Zeiten
in ein Kloster zurückzuziehen pflegte, um dort ein schweres Lebensschicksal auszutragen. Für
unsere erste Patientin ist es die in Wirklichkeit aufgegebene Ehe mit ihrem Manne, die ihr dieses
Verhängnis bereitet hat. Durch ihre Symptome setzt sie den Prozeß mit ihrem Manne fort; wir
haben jene Stimmen verstehen gelernt, die für ihn plädieren, die ihn entschuldigen, erhöhen,
seinen Verlust beklagen. Obwohl sie jung und für andere Männer begehrenswert ist, hat sie alle
realen und imaginären (magischen) Vorsichten ergriffen, um ihm die Treue zu bewahren. Sie
zeigt sich nicht vor fremden Augen, vernachlässigt ihre Erscheinung, aber sie vermag es auch
nicht, so bald von einem Sessel aufzustehen, auf dem sie gesessen ist, und sie verweigert es, ihren
Namen zu unterschreiben, kann keinem ein Geschenk machen, mit der Motivierung, es dürfe
niemand etwas von ihr haben. Bei unserer zweiten Patientin, dem jungen Mädchen, ist es eine
erotische Bindung an den Vater, welche sich in den Jahren vor der Pubertät hergestellt hatte, die
für ihr Leben dasselbe leistet. Sie hat auch für sich den Schluß gezogen, daß sie nicht heiraten
kann, solange sie so krank ist. Wir dürfen vermuten, sie ist so krank geworden, um nicht heiraten
zu müssen und um beim Vater zu bleiben.
Wir dürfen die Frage nicht abweisen, wie, auf welchem Wege und kraft welcher Motive kommt
man in eine so merkwürdige und so unvorteilhafte Einstellung zum Leben? Vorausgesetzt, daß
dieses Verhalten ein allgemeiner Charakter der Neurose und nicht eine besondere
Eigentümlichkeit dieser zwei Kranken ist. Es ist aber in der Tat ein allgemeiner, praktisch sehr
bedeutsamer Zug einer jeden Neurose. Die erste hysterische Patientin von Breuer war in
ähnlicher Weise an die Zeit fixiert, da sie ihren schwer erkrankten Vater pflegte. Sie hat trotz
ihrer Herstellung seither in gewisser Hinsicht mit dem Leben abgeschlossen, sie ist zwar gesund
und leistungsfähig geblieben, ist aber dem normalen Frauenschicksal ausgewichen. Bei jedem
unserer Kranken können wir durch die Analyse ersehen, daß er sich in seinen
Krankheitssymptomen und durch die Folgerungen aus ihnen in eine gewisse Periode seiner
Vergangenheit zurückversetzt hat. In der Überzahl der Fälle hat er sogar eine sehr frühe
Lebensphase dazu gewählt, eine Zeit seiner Kindheit, ja so lächerlich es klingen mag, selbst
seiner Säuglingsexistenz.
Die nächste Analogie zu diesem Verhalten unserer Nervösen bieten Erkrankungen, wie sie gerade
jetzt der Krieg in besonderer Häufigkeit entstehen läßt, die sogenannten traumatischen Neurosen.
Es hat solche Fälle nach Eisenbahnzusammenstößen und anderen schreckhaften Lebensgefahren
natürlich auch vor dem Kriege gegeben. Die traumatischen Neurosen sind im Grunde nicht
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin