Page - 161 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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dasselbe wie die spontanen Neurosen, die wir analytisch zu untersuchen und zu behandeln
pflegen; es ist uns auch noch nicht gelungen, sie unseren Gesichtspunkten zu unterwerfen, und
ich hoffe, Ihnen einmal klarmachen zu können, woran diese Einschränkung liegt. Aber in dem
einen Punkt dürfen wir eine völlige Übereinstimmung hervorheben. Die traumatischen Neurosen
geben deutliche Anzeichen dafür, daß ihnen eine Fixierung an den Moment des traumatischen
Unfalles zugrunde liegt. In ihren Träumen wiederholen diese Kranken regelmäßig die
traumatische Situation; wo hysteriforme Anfälle vorkommen, die eine Analyse zulassen, erfährt
man, daß der Anfall einer vollen Versetzung in diese Situation entspricht. Es ist so, als ob diese
Kranken mit der traumatischen Situation nicht fertiggeworden wären, als ob diese noch als
unbezwungene aktuelle Aufgabe vor ihnen stände, und wir nehmen diese Auffassung in allem
Ernst an; sie zeigt uns den Weg zu einer, heißen wir es ökonomischen Betrachtung der seelischen
Vorgänge. Ja, der Ausdruck traumatisch hat keinen anderen als einen solchen ökonomischen
Sinn. Wir nennen so ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so
starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in
normalgewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren
müssen.
Diese Analogie muß uns dazu verlocken, auch jene Erlebnisse, an welche unsere Nervösen fixiert
erscheinen, als traumatische zu bezeichnen. Auf solche Weise würde uns eine einfache
Bedingung für die neurotische Erkrankung verheißen werden. Die Neurose wäre einer
traumatischen Erkrankung gleichzusetzen und entstünde durch die Unfähigkeit, ein überstark
affektbetontes Erlebnis zu erledigen. So lautete auch wirklich die erste Formel, in welcher Breuer
und ich 1893/95 theoretische Rechenschaft von unseren neuen Beobachtungen ablegten. Ein Fall
wie der unserer ersten Patientin, der jungen, von ihrem Mann getrennten Frau, unterwirft sich
dieser Auffassung sehr gut. Sie hat die Undurchführbarkeit ihrer Ehe nicht verwunden und ist an
diesem Trauma hängengeblieben. Aber schon unser zweiter Fall, das an ihren Vater fixierte
Mädchen, zeigt uns, daß die Formel nicht umfassend genug ist. Einerseits ist eine solche
Kleinmädchenverliebtheit in den Vater etwas so Gewöhnliches und so häufig Überwundenes, daß
die Bezeichnung »traumatisch« allen Gehalt verlieren würde, anderseits lehrt uns die Geschichte
der Kranken, daß diese erste erotische Fixierung zunächst anscheinend schadlos vorüberging und
erst mehrere Jahre später in den Symptomen der Zwangsneurose wieder zum Vorschein kam. Wir
sehen da also Komplikationen, eine größere Reichhaltigkeit der Erkrankungsbedingungen voraus,
aber wir ahnen auch, der traumatische Gesichtspunkt wird nicht etwa als irrig aufzugeben sein; er
wird sich anderswo einfügen und unterordnen müssen.
Wir brechen hier wieder den Weg ab, den wir eingeschlagen haben. Er führt zunächst nicht
weiter, und wir haben allerlei anderes zu erfahren, ehe wir seine richtige Fortsetzung finden
können. Bemerken wir noch zum Thema der Fixierung an eine bestimmte Phase der
Vergangenheit, daß ein solches Vorkommen weit über die Neurose hinausgeht. Jede Neurose
enthält eine solche Fixierung, aber nicht jede Fixierung führt zur Neurose, fällt mit Neurose
zusammen oder stellt sich auf dem Wege der Neurose her. Ein Mustervorbild einer affektiven
Fixierung an etwas Vergangenes ist die Trauer, die selbst die vollste Abwendung von Gegenwart
und Zukunft mit sich bringt. Aber die Trauer scheidet sich selbst für das Laienurteil scharf von
der Neurose. Dagegen gibt es Neurosen, die man als eine pathologische Form der Trauer
bezeichnen kann.
Es kommt auch vor, daß Menschen durch ein traumatisches, die bisherigen Grundlagen ihres
Lebens erschütterndes Ereignis so zum Stillstand gebracht werden, daß sie jedes Interesse für
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin