Page - 168 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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19. Vorlesung
Widerstand und Verdrängung
Meine Damen und Herren! Um im Verständnis der Neurosen weiterzukommen, bedürfen wir
neuer Erfahrungen, und wir machen deren zwei. Beide sehr merkwürdig und seinerzeit sehr
überraschend. Sie sind freilich auf beide durch unsere vorjährigen Besprechungen vorbereitet.
Erstens: Wenn wir es unternehmen, einen Kranken herzustellen, von seinen Leidenssymptomen
zu befreien, so setzt er uns einen heftigen, zähen, über die ganze Dauer der Behandlung
anhaltenden Widerstand entgegen. Das ist eine so sonderbare Tatsache, daß wir nicht viel
Glauben für sie erwarten dürfen. Den Angehörigen des Kranken sagen wir am besten nichts
davon, denn diese meinen nie etwas anderes, als es sei eine Ausrede von uns, um die lange Dauer
oder den Mißerfolg unserer Behandlung zu entschuldigen. Auch der Kranke produziert alle
Phänomene dieses Widerstandes, ohne ihn als solchen zu erkennen, und es ist bereits ein großer
Erfolg, wenn wir ihn dazu gebracht haben, sich in diese Auffassung zu finden und mit ihr zu
rechnen. Denken Sie doch, der Kranke, der unter seinen Symptomen so leidet und seine Nächsten
dabei mitleiden läßt, der so viele Opfer an Zeit, Geld, Mühe und Selbstüberwindung auf sich
nehmen will, um von ihnen befreit zu werden, der sollte sich im Interesse seines Krankseins
gegen seinen Helfer sträuben. Wie unwahrscheinlich muß diese Behauptung klingen! Und doch
ist es so, und wenn man uns diese Unwahrscheinlichkeit vorhält, so brauchen wir nur zu
antworten, es sei nicht ohne seine Analogien und jeder, der wegen unerträglicher Zahnschmerzen
den Zahnarzt aufgesucht hat, sei diesem wohl in den Arm gefallen, wenn er sich dem kranken
Zahn mit der Zange nähern wollte.
Der Widerstand der Kranken ist sehr mannigfaltig, höchst raffiniert, oft schwer zu erkennen,
wechselt proteusartig die Form seiner Erscheinung. Es heißt für den Arzt mißtrauisch sein und
auf seiner Hut gegen ihn bleiben. Wir wenden ja in der psychoanalytischen Therapie die Technik
an, die Ihnen von der Traumdeutung her bekannt ist. Wir legen es dem Kranken auf, sich in einen
Zustand von ruhiger Selbstbeobachtung ohne Nachdenken zu versetzen und alles mitzuteilen,
was er dabei an inneren Wahrnehmungen machen kann: Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, in der
Reihenfolge, in der sie in ihm auftauchen. Wir warnen ihn dabei ausdrücklich, irgendeinem
Motiv nachzugeben, welches eine Auswahl oder Ausschließung unter den Einfällen erzielen
möchte, möge es lauten, das ist zu unangenehm oder zu indiskret, um es zu sagen, oder das ist zu
unwichtig, es gehört nicht hierher, oder das ist unsinnig, braucht nicht gesagt zu werden. Wir
schärfen ihm ein, immer nur der Oberfläche seines Bewußtseins zu folgen, jede wie immer
geartete Kritik gegen das, was er findet, zu unterlassen, und vertrauen ihm an, daß der Erfolg der
Behandlung, vor allem aber die Dauer derselben von der Gewissenhaftigkeit abhängt, mit der er
diese technische Grundregel der Analyse befolgt. Wir wissen ja von der Technik der
Traumdeutung, daß gerade solche Einfälle, gegen welche sich die aufgezählten Bedenken und
Einwendungen erheben, regelmäßig das Material enthalten, welches zur Aufdeckung des
Unbewußten hinführt.
Durch die Aufstellung dieser technischen Grundregel erreichen wir zunächst, daß sie zum
Angriffspunkt des Widerstandes wird. Der Kranke sucht sich ihren Bestimmungen auf jede Art
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin