Page - 294 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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gestehe, daß ich für diesen Fall keine andere Erklärung weiß außer vielleicht, daß mein Patient
sich einen Scherz mit mir erlaubt hat. Aber er gab mir weder damals noch später Grund zu
diesem Verdacht und schien, was er sagte, ernsthaft zu meinen.
Ein anderer Fall. Ein junger Mann in angesehener Stellung unterhält ein Verhältnis mit einer
Lebedame, in dem sich ein merkwürdiger Zwang durchsetzt. Von Zeit zu Zeit muß er die
Geliebte durch spottende und höhnende Reden kränken, bis sie in helle Verzweiflung gerät. Hat
er sie so weit gebracht, so ist er erleichtert, er versöhnt sich mit ihr und beschenkt sie. Aber er
möchte jetzt frei von ihr werden, der Zwang ist ihm unheimlich, er merkt, daß sein eigener Ruf
unter diesem Verhältnis leidet, er will eine eigene Frau haben, eine Familie gründen. Nur daß er
mit eigener Kraft nicht von der Lebedame loskommt, er nimmt dazu die Hilfe der Analyse in
Anspruch. Nach einer solchen Beschimpfungsszene, schon während der Analyse, läßt er sich von
ihr ein Kärtchen schreiben, das er einem Schriftkundigen vorlegt. Die Auskunft, die er von ihm
erhält, lautet: Das ist die Schrift eines Menschen in äußerster Verzweiflung, die Person wird sich
gewiß in den allernächsten Tagen umbringen. Das geschieht zwar nicht, die Dame bleibt am
Leben, aber der Analyse gelingt es, seine Fesseln zu lockern; er verläßt die Dame und wendet
sich einem jungen Mädchen zu, von dem er erwartet, daß es eine brave Frau für ihn werden kann.
Bald nachher erscheint ein Traum, der nur auf einen beginnenden Zweifel an dem Wert dieses
Mädchens gedeutet werden kann. Er nimmt auch von ihr eine Schriftprobe, die er derselben
Autorität vorlegt, und hört ein Urteil über ihre Schrift, das seine Besorgnisse bestätigt. Er gibt
also die Absicht, sie zu seiner Frau zu machen, auf.
Um die Gutachten des Schriftkundigen, zumal das erste, zu würdigen, muß man etwas von der
Geheimgeschichte unseres Mannes wissen. Im frühen Jünglingsalter hatte er sich, seiner
leidenschaftlichen Natur entsprechend, bis zur Raserei in eine junge Frau verliebt, die immerhin
älter war als er. Von ihr abgewiesen, machte er einen Selbstmordversuch, an dessen ernster
Absicht man nicht zweifeln kann. Nur durch ein Ungefähr entging er dem Tode und erst nach
langer Pflege war er hergestellt. Aber diese wilde Tat machte auf die geliebte Frau einen tiefen
Eindruck, sie schenkte ihm ihre Gunst, er wurde ihr Liebhaber, blieb ihr von da an heimlich
verbunden und diente ihr in echt ritterlicher Weise. Nach mehr als zwei Dezennien, als sie beide
gealtert waren, die Frau natürlich mehr als er, erwachte in ihm das Bedürfnis, sich von ihr
abzulösen, frei zu werden, ein eigenes Leben zu führen, selbst ein Haus und eine Familie zu
gründen. Und gleichzeitig mit diesem Überdruß stellte sich bei ihm das lange unterdrückte
Bedürfnis nach Rache an der Geliebten ein. Hatte er sich einst umbringen wollen, weil sie ihn
verschmäht hatte, so wollte er jetzt die Genugtuung haben, daß sie den Tod suchte, weil er sie
verließ. Aber seine Liebe war noch immer zu stark, als daß dieser Wunsch ihm bewußt werden
konnte; auch war er nicht imstande, ihr genug Böses anzutun, um sie in den Tod zu treiben. In
dieser Gemütslage nahm er die Lebedame gewissermaßen als Prügelknaben auf, um in corpore
vili seinen Rachedurst zu befriedigen, und gestattete sich an ihr alle Quälereien, von denen er
erwarten konnte, sie würden bei ihr den Erfolg haben, den er bei der geliebten Frau erwünschte.
Daß die Rache eigentlich dieser letzteren galt, verriet sich nur durch den Umstand, daß er die
Frau zur Mitwisserin und Ratgeberin in seinem Liebesverhältnis machte, anstatt ihr seinen Abfall
zu verbergen. Die Arme, die längst von der Geberin zur Empfängerin herabgesunken war, litt
unter seiner Vertraulichkeit wahrscheinlich mehr als die Lebedame unter seiner Brutalität. Der
Zwang, über den er sich bei der Ersatzperson beklagte und der ihn in die Analyse trieb, war
natürlich von der alten Geliebten her auf sie übertragen; diese letztere war es, von der er sich frei
machen wollte und nicht konnte. Ich bin kein Schriftenkenner und halte nicht viel von der Kunst,
aus der Schrift den Charakter zu erraten, noch weniger glaube ich an die Möglichkeit, auf diesem
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin