Page - 295 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Wege die Zukunft des Schreibers vorherzusagen. Sie sehen aber, wie immer man über den Wert
der Graphologie denken mag, es ist unverkennbar, daß der Sachverständige, wenn er versprach,
daß der Schreiber der ihm vorgelegten Probe sich in den nächsten Tagen umbringen werde,
wiederum nur einen starken geheimen Wunsch der ihn befragenden Person ans Licht gezogen
hatte. Etwas Ähnliches geschah dann auch beim zweiten Gutachten, nur daß hier nicht ein
unbewußter Wunsch in Betracht kam, sondern daß die keimenden Zweifel und Besorgnisse des
Befragenden durch den Mund des Schriftkundigen einen klaren Ausdruck fanden. Meinem
Patienten gelang es übrigens, mit Hilfe der Analyse eine Liebeswahl zu treffen außerhalb des
Zauberkreises, in den er gebannt gewesen war.
Meine Damen und Herren! Sie haben nun gehört, was die Traumdeutung und die Psychoanalyse
überhaupt für den Okkultismus leistet. Sie haben an Beispielen gesehen, daß durch ihre
Anwendung okkulte Tatbestände klargemacht werden, die sonst unkenntlich geblieben wären.
Die Frage, die Sie gewiß am meisten interessiert, ob man an die objektive Realität dieser Befunde
glauben darf, kann die Psychoanalyse nicht direkt beantworten, aber das mit ihrer Hilfe zutage
geförderte Material macht wenigstens einen der Bejahung günstigen Eindruck. Dabei wird Ihr
Interesse nicht haltmachen. Sie werden wissen wollen, zu welchen Schlüssen jenes ungleich
reichere Material berechtigt, an dem die Psychoanalyse keinen Anteil hat. Dahin kann ich Ihnen
aber nicht folgen, es ist nicht mehr mein Gebiet. Das einzige, was ich noch tun kann, wäre, daß
ich Ihnen von Beobachtungen erzähle, die wenigstens die eine Beziehung zur Analyse haben, daß
sie während der analytischen Behandlung gemacht, vielleicht auch durch ihren Einfluß
ermöglicht wurden. Ich werde Ihnen ein solches Beispiel mitteilen, dasjenige, welches mir den
stärksten Eindruck hinterlassen hat, werde sehr ausführlich sein, Ihre Aufmerksamkeit für eine
Menge von Einzelheiten in Anspruch nehmen und dabei doch vieles unterdrücken müssen, was
die überzeugende Kraft der Beobachtung sehr gesteigert hätte. Es ist ein Beispiel, in dem der
Tatbestand klar zutage tritt und nicht durch die Analyse entwickelt zu werden braucht. Bei seiner
Diskussion werden wir die Hilfe der Analyse aber nicht entbehren können. Ich sage es Ihnen aber
vorher, auch dieses Beispiel von anscheinender Gedankenübertragung in der analytischen
Situation ist nicht gegen alle Bedenken gefeit, gestattet keine unbedingte Parteinahme für die
Realität des okkulten Phänomens.
Also hören Sie: An einem Herbsttag des Jahres 1919, etwa um ¾11 Uhr a.
m., gibt der eben aus
London eingetroffene Dr. David Forsyth eine Karte für mich ab, während ich mit einem Patienten
arbeite. (Mein geehrter Kollege von der London University wird es sicherlich nicht als
Indiskretion auffassen, wenn ich so verrate, daß er sich von mir durch einige Monate in die
Künste der psychoanalytischen Technik einführen ließ.) Ich habe nur Zeit, ihn zu begrüßen und
für später zu bestellen. Dr. Forsyth hat Anspruch auf mein besonderes Interesse; er ist der erste
Ausländer, der nach der Absperrung der Kriegsjahre zu mir kommt, der eine bessere Zeit
eröffnen soll. Bald nachher, um 11 Uhr, kommt einer meiner Patienten, Herr P., ein geistreicher
und liebenswürdiger Mann, im Alter zwischen 40 und 50, der mich seinerzeit wegen
Schwierigkeiten beim Weibe aufgesucht hatte. Sein Fall versprach keinen therapeutischen Erfolg;
ich hatte ihm längst vorgeschlagen, die Behandlung einzustellen, aber er hatte deren Fortsetzung
gewünscht, offenbar weil er sich in einer wohltemperierten Vater-Übertragung auf mich
behaglich fühlte. Geld spielte um diese Zeit keine Rolle, da zu wenig davon vorhanden war; die
Stunden, die ich mit ihm verbrachte, waren auch für mich Anregung und Erholung, und so wurde,
mit Hinwegsetzung über die strengen Regeln des ärztlichen Betriebs, die analytische Bemühung
bis zu einem in Aussicht genommenen Termin weitergeführt.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin