Page - 370 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Ich schäme mich beinahe, ein Thema von solcher Wichtigkeit und Kompliziertheit vor Ihnen mit
so wenigen unzureichenden Bemerkungen zu behandeln, weiß auch, daß ich Ihnen nichts gesagt
habe, was Ihnen neu ist. Es liegt mir nur daran, Sie aufmerksam zu machen, daß das Verhältnis
des Menschen zur Beherrschung der Natur, der er seine Waffen zum Kampf gegen seinesgleichen
entnimmt, notwendigerweise auch seine ökonomischen Einrichtungen beeinflussen muß. Wir
scheinen uns weit von den Problemen der Weltanschauung entfernt zu haben, aber wir werden
bald wieder zur Stelle sein. Die Stärke des Marxismus liegt offenbar nicht in seiner Auffassung
der Geschichte und der darauf gegründeten Vorhersage der Zukunft, sondern in dem
scharfsinnigen Nachweis des zwingenden Einflusses, den die ökonomischen Verhältnisse der
Menschen auf ihre intellektuellen, ethischen und künstlerischen Einstellungen haben. Eine Reihe
von Zusammenhängen und Abhängigkeiten wurden damit aufgedeckt, die bis dahin fast völlig
verkannt worden waren. Aber man kann nicht annehmen, daß die ökonomischen Motive die
einzigen sind, die das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft bestimmen. Schon die
unzweifelhafte Tatsache, daß verschiedene Personen, Rassen, Völker unter den nämlichen
Wirtschaftsbedingungen sich verschieden benehmen, schließt die Alleinherrschaft der
ökonomischen Momente aus. Man versteht überhaupt nicht, wie man psychologische Faktoren
übergehen kann, wo es sich um die Reaktionen lebender Menschenwesen handelt, denn nicht nur,
daß solche bereits an der Herstellung jener ökonomischen Verhältnisse beteiligt waren, auch
unter deren Herrschaft können Menschen nicht anders als ihre ursprünglichen Triebregungen ins
Spiel bringen, ihren Selbsterhaltungstrieb, ihre Aggressionslust, ihr Liebesbedürfnis, ihren Drang
nach Lusterwerb und Unlustvermeidung. In einer früheren Untersuchung haben wir auch den
bedeutsamen Anspruch des Über-Ichs geltend gemacht, das Tradition und Idealbildungen der
Vergangenheit vertritt und den Antrieben aus einer neuen ökonomischen Situation eine Zeitlang
Widerstand leisten wird. Endlich wollen wir nicht vergessen, daß über die Menschenmasse, die
den ökonomischen Notwendigkeiten unterworfen ist, auch der Prozeß der Kulturentwicklung –
Zivilisation sagen andere – abläuft, der gewiß von allen anderen Faktoren beeinflußt wird, aber
sicherlich in seinem Ursprung von ihnen unabhängig ist, einem organischen Vorgang
vergleichbar, und sehr wohl imstande, seinerseits auf die anderen Momente einzuwirken« Er
verschiebt die Triebziele und macht, daß die Menschen sich gegen das sträuben, was ihnen bisher
erträglich war; auch scheint die fortschreitende Erstarkung des wissenschaftlichen Geistes ein
wesentliches Stück von ihm zu sein. Wenn jemand imstande wäre, im einzelnen nachzuweisen,
wie sich diese verschiedenen Momente, die allgemeine menschliche Triebanlage, ihre
rassenhaften Variationen und ihre kulturellen Umbildungen unter den Bedingungen der sozialen
Einordnung, der Berufstätigkeit und Erwerbsmöglichkeiten gebärden, einander hemmen und
fördern, wenn jemand das leisten könnte, dann würde er die Ergänzung des Marxismus zu einer
wirklichen Gesellschaftskunde gegeben haben. Denn auch die Soziologie, die vom Verhalten der
Menschen in der Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als angewandte Psychologie.
Strenggenommen gibt es ja nur zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, und
Naturkunde.
Mit der neugewonnenen Einsicht in die weitreichende Bedeutung ökonomischer Verhältnisse
ergab sich die Versuchung, deren Abänderung nicht der historischen Entwicklung zu überlassen,
sondern sie durch revolutionären Eingriff selbst durchzusetzen. In seiner Verwirklichung im
russischen Bolschewismus hat nun der theoretische Marxismus die Energie, Geschlossenheit und
Ausschließlichkeit einer Weltanschauung gewonnen, gleichzeitig aber auch eine unheimliche
Ähnlichkeit mit dem, was er bekämpft. Ursprünglich selbst ein Stück Wissenschaft, in seiner
Durchführung auf Wissenschaft und Technik aufgebaut, hat er doch ein Denkverbot geschaffen,
das ebenso unerbittlich ist wie seinerzeit das der Religion. Eine kritische Untersuchung der
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin