Page - 1280 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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unverstandenen Gefühlswandlung. Vielleicht geht es eher so zu, daß die Mutterbindung zugrunde
gehen muß, gerade darum, weil sie die erste und so intensiv ist, ähnlich wie man es so oft an den
ersten, in stärkster Verliebtheit geschlossenen Ehen der jungen Frauen beobachten kann. Hier wie
dort würde die Liebeseinstellung an den unausweichlichen Enttäuschungen und an der
Anhäufung der Anlässe zur Aggression scheitern. Zweite Ehen gehen in der Regel weit besser
aus.
Wir können nicht so weit gehen zu behaupten, daß die Ambivalenz der Gefühlsbesetzungen ein
allgemeingültiges psychologisches Gesetz ist, daß es überhaupt unmöglich ist, große Liebe für
eine Person zu empfinden, ohne daß sich ein vielleicht ebenso großer Haß hinzugesellt oder
umgekehrt. Dem Normalen und Erwachsenen gelingt es ohne Zweifel, beide Einstellungen
voneinander zu sondern, sein Liebesobjekt nicht zu hassen und seinen Feind nicht auch lieben zu
müssen. Aber das scheint das Ergebnis späterer Entwicklungen. In den ersten Phasen des
Liebeslebens ist offenbar die Ambivalenz das Regelrechte. Bei vielen Menschen bleibt dieser
archaische Zug über das ganze Leben erhalten, für die Zwangsneurotiker ist es charakteristisch,
daß in ihren Objektbeziehungen Liebe und Haß einander die Waage halten. Auch für die
Primitiven dürfen wir das Vorwiegen der Ambivalenz behaupten. Die intensive Bindung des
kleinen Mädchens an seine Mutter müßte also eine stark ambivalente sein und unter der Mithilfe
der anderen Momente gerade durch diese Ambivalenz zur Abwendung von ihr gedrängt werden,
also wiederum infolge eines allgemeinen Charakters der infantilen Sexualität.
Gegen diesen Erklärungsversuch erhebt sich sofort die Frage: Wie wird es aber den Knaben
möglich, ihre gewiß nicht weniger intensive Mutterbindung unangefochten festzuhalten? Ebenso
rasch ist die Antwort bereit: Weil es ihnen ermöglicht ist, ihre Ambivalenz gegen die Mutter zu
erledigen, indem sie all ihre feindseligen Gefühle beim Vater unterbringen. Aber erstens soll man
diese Antwort nicht geben, ehe man die präödipale Phase der Knaben eingehend studiert hat, und
zweitens ist es wahrscheinlich überhaupt vorsichtiger, sich einzugestehen, daß man diese
Vorgänge, die man eben kennengelernt hat, noch gar nicht gut durchschaut.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin