Page - 1390 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Die Intoxikationen und Abstinenzen beim Gebrauch gewisser chronischer Gifte stehen ja unter
allen Krankheitsbildern, welche uns die Klinik kennen lehrt, den genuinen Psychoneurosen am
nächsten.
Was sich aber über das »somatische Entgegenkommen«, über die infantilen Keime zur
Perversion, über die erogenen Zonen und die Anlage zur Bisexualität heute aussagen läßt, habe
ich in dieser Abhandlung gleichfalls nicht ausgeführt, sondern nur die Stellen hervorgehoben, an
denen die Analyse auf diese organischen Fundamente der Symptome stößt. Mehr ließ sich von
einem vereinzelten Falle aus nicht tun, auch hatte ich die nämlichen Gründe wie oben, eine
beiläufige Erörterung dieser Momente zu vermeiden. Hier ist reichlicher Anlaß zu weiteren, auf
eine große Zahl von Analysen gestützten Arbeiten gegeben. Mit dieser soweit unvollständigen
Veröffentlichung wollte ich doch zweierlei erreichen. Erstens als Ergänzung zu meinem Buche
über die Traumdeutung zeigen, wie diese sonst unnütze Kunst zur Aufdeckung des Verborgenen
und Verdrängten im Seelenleben verwendet werden kann; bei der Analyse der beiden hier
mitgeteilten Träume ist dann auch die Technik des Traumdeutens, welche der psychoanalytischen
ähnlich ist, berücksichtigt worden. Zweitens wollte ich Interesse für eine Reihe von Verhältnissen
erwecken, welche heute der Wissenschaft noch völlig unbekannt sind, weil sie sich nur bei
Anwendung dieses bestimmten Verfahrens entdecken lassen. Von der Komplikation der
psychischen Vorgänge bei der Hysterie, dem Nebeneinander der verschiedenartigsten Regungen,
der gegenseitigen Bindung der Gegensätze, den Verdrängungen und Verschiebungen u. a. m. hat
wohl niemand eine richtige Ahnung haben können. Janets Hervorhebung der idée fixe, die sich in
das Symptom umsetzt, bedeutet nichts als eine wahrhaft kümmerliche Schematisierung. Man
wird sich auch der Vermutung nicht erwehren können, daß Erregungen, deren zugehörige
Vorstellungen der Bewußtseinsfähigkeit ermangeln, anders aufeinander einwirken, anders
verlaufen und zu anderen Äußerungen führen als die von uns »normal« genannten, deren
Vorstellungsinhalt uns bewußt wird. Ist man soweit aufgeklärt, so steht dem Verständnis einer
Therapie nichts mehr im Wege, welche neurotische Symptome aufhebt, indem sie Vorstellungen
der ersteren Art in normale verwandelt.
Es lag mir auch daran zu zeigen, daß die Sexualität nicht bloß als einmal auftretender deus ex
machina irgendwo in das Getriebe der für die Hysterie charakteristischen Vorgänge eingreift,
sondern daß sie die Triebkraft für jedes einzelne Symptom und für jede einzelne Äußerung eines
Symptoms abgibt. Die Krankheitserscheinungen sind, geradezu gesagt, die Sexualbetätigung der
Kranken. Ein einzelner Fall wird niemals imstande sein, einen so allgemeinen Satz zu erweisen,
aber ich kann es nur immer wieder von neuem wiederholen, weil ich es niemals anders finde, daß
die Sexualität der Schlüssel zum Problem der Psychoneurosen wie der Neurosen überhaupt ist.
Wer ihn verschmäht, wird niemals aufzuschließen imstande sein. Ich warte noch auf die
Untersuchungen, welche diesen Satz aufzuheben oder einzuschränken vermögen sollen. Was ich
bis jetzt dagegen gehört habe, waren Äußerungen persönlichen Mißfallens oder Unglaubens,
denen es genügt, das Wort Charcots entgegenzuhalten: »Ça n’empêche pas d’exister.«
Der Fall, aus dessen Kranken- und Behandlungsgeschichte ich hier ein Bruchstück veröffentlicht
habe, ist auch nicht geeignet, den Wert der psychoanalytischen Therapie ins rechte Licht zu
setzen. Nicht nur die Kürze der Behandlungsdauer, die kaum drei Monate betrug, sondern noch
ein anderes dem Falle innewohnendes Moment haben es verhindert, daß die Kur mit der sonst zu
erreichenden, vom Kranken und seinen Angehörigen zugestandenen Besserung abschloß, die
mehr oder weniger nahe an vollkommene Heilung heranreicht. Solche erfreuliche Erfolge erzielt
man, wo die Krankheitserscheinungen allein durch den inneren Konflikt zwischen den auf die
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin