Page - 1533 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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vorhanden sein kann. An seiner Statt finden wir den Gegensatz von Strebungen mit aktivem und
passivem Ziel, der sich späterhin mit dem Gegensatz der Geschlechter verlöten wird. Die
Aktivität wird vom gemeinen Bemächtigungstrieb beigestellt, den wir eben Sadismus heißen,
wenn wir ihn im Dienste der Sexualfunktion finden; er hat auch im vollentwickelten normalen
Sexualleben wichtige Helferdienste zu verrichten. Die passive Strömung wird von der Analerotik
gespeist, deren erogene Zone der alten, undifferenzierten Kloake entspricht. Die Betonung dieser
Analerotik auf der prägenitalen Organisationsstufe wird beim Manne eine bedeutsame
Prädisposition zur Homosexualität hinterlassen, wenn die nächste Stufe der Sexualfunktion, die
des Primats der Genitalien, erreicht wird. Der Aufbau dieser letzten Phase über der vorigen und
die dabei erfolgende Umarbeitung der Libidobesetzungen bietet der analytischen Forschung die
interessantesten Aufgaben.
Man kann der Meinung sein, daß man sich allen hier in Betracht kommenden Schwierigkeiten
und Komplikationen entzieht, wenn man eine prägenitale Organisation des Sexuallebens
verleugnet und das Sexualleben mit der Genital- und Fortpflanzungsfunktion zusammenfallen,
wie auch mit ihr beginnen läßt. Von den Neurosen würde man dann mit Rücksicht auf die nicht
mißverständlichen Ergebnisse der analytischen Forschung aussagen, daß sie durch den Prozeß
der Sexualverdrängung dazu genötigt werden, sexuelle Strebungen durch andere, nicht sexuelle
Triebe auszudrücken, die letzteren also kompensatorisch zu sexualisieren. Wenn man so verfährt,
hat man sich aber außerhalb der Psychoanalyse begeben. Man steht wieder dort, wo man sich vor
der Psychoanalyse befand, und muß auf das durch sie vermittelte Verständnis des
Zusammenhanges zwischen Gesundheit, Perversion und Neurose verzichten. Die Psychoanalyse
steht und fällt mit der Anerkennung der sexuellen Partialtriebe, der erogenen Zonen und der so
gewonnenen Ausdehnung des Begriffes »Sexualfunktion« im Gegensatz zur engeren
»Genitalfunktion«. Übrigens reicht die Beobachtung der normalen Entwicklung des Kindes für
sich allein hin, um eine solche Versuchung zurückzuweisen.
c) Auf dem Gebiete der Charakterentwicklung müssen wir denselben Triebkräften begegnen,
deren Spiel wir in den Neurosen aufgedeckt haben. Eine scharfe theoretische Scheidung der
beiden wird aber durch den einen Umstand geboten, daß beim Charakter wegfällt, was dem
Neurosenmechanismus eigentümlich ist, das Mißglücken der Verdrängung und die Wiederkehr
des Verdrängten. Bei der Charakterbildung tritt die Verdrängung entweder nicht in Aktion oder
sie erreicht glatt ihr Ziel, das Verdrängte durch Reaktionsbildungen und Sublimierungen zu
ersetzen. Darum sind die Prozesse der Charakterbildung undurchsichtiger und der Analyse
unzugänglicher als die neurotischen.
Gerade auf dem Gebiete der Charakterentwicklung begegnet uns aber eine gute Analogie zu dem
von uns beschriebenen Krankheitsfalle, also eine Bekräftigung der prägenitalen
sadistisch-analerotischen Sexualorganisation. Es ist bekannt und hat den Menschen viel Stoff zur
Klage gegeben, daß die Frauen häufig, nachdem sie ihre Genitalfunktionen aufgegeben haben,
ihren Charakter in eigentümlicher Weise verändern. Sie werden zänkisch, quälerisch und
rechthaberisch, kleinlich und geizig, zeigen also typische sadistische und analerotische Züge, die
ihnen vorher in der Epoche der Weiblichkeit nicht eigen waren. Lustspieldichter und Satiriker
haben zu allen Zeiten ihre Invektiven gegen den »alten Drachen« gerichtet, zu dem das holde
Mädchen, die liebende Frau, die zärtliche Mutter geworden ist. Wir verstehen, daß diese
Charakterwandlung der Regression des Sexuallebens auf die prägenitale, sadistisch-analerotische
Stufe entspricht, in welcher wir die Disposition zur Zwangsneurose gefunden haben. Sie wäre
also nicht nur die Vorläuferin der genitalen Phase, sondern oft genug auch ihre Nachfolge und
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin