Page - 1603 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Genese der sozialen Triebe führt[151]. Hier wie dort sind zunächst eifersüchtige und feindselige
Regungen vorhanden, die es nicht zur Befriedigung bringen können, und die zärtlichen wie die
sozialen Identifizierungsgefühle entstehen als Reaktionsbildungen gegen die verdrängten
Aggressionsimpulse.
Dieser neue Mechanismus der homosexuellen Objektwahl, die Entstehung aus überwundener
Rivalität und verdrängter Aggressionsneigung, mengt sich in manchen Fällen den uns bekannten
typischen Bedingungen bei. Man erfährt nicht selten aus der Lebensgeschichte Homosexueller,
daß ihre Wendung eintrat, nachdem die Mutter einen anderen Knaben gelobt und als Vorbild
angepriesen hatte. Dadurch wurde die Tendenz zur narzißtischen Objektwahl gereizt, und nach
einer kurzen Phase scharfer Eifersucht war der Rivale zum Liebesobjekt geworden. Sonst aber
sondert sich der neue Mechanismus dadurch ab, daß bei ihm die Umwandlung in viel früheren
Jahren vor sich geht und die Mutteridentifizierung in den Hintergrund tritt. Auch führte er in den
von mir beobachteten Fällen nur zu homosexuellen Einstellungen, welche die Heterosexualität
nicht ausschlossen und keinen horror feminae mit sich brachten.
Es ist bekannt, daß eine ziemliche Anzahl homosexueller Personen sich durch besondere
Entwicklung der sozialen Triebregungen und durch Hingabe an gemeinnützige Interessen
auszeichnet. Man wäre versucht, dafür die theoretische Erklärung zu geben, daß ein Mann, der in
anderen Männern mögliche Liebesobjekte sieht, sich gegen die Gemeinschaft der Männer anders
benehmen muß als ein anderer, der genötigt ist, im Mann zunächst den Rivalen beim Weibe zu
erblicken. Dem steht nur die Erwägung entgegen, daß es auch bei homosexueller Liebe
Eifersucht und Rivalität gibt und daß die Gemeinschaft der Männer auch diese möglichen
Rivalen umschließt. Aber auch, wenn man von dieser spekulativen Begründung absieht, kann die
Tatsache für den Zusammenhang von Homosexualität und sozialem Empfinden nicht gleichgültig
sein, daß die homosexuelle Objektwahl nicht selten aus frühzeitiger Überwindung der Rivalität
mit dem Manne hervorgeht.
In der psychoanalytischen Betrachtung sind wir gewöhnt, die sozialen Gefühle als
Sublimierungen homosexueller Objekteinstellungen aufzufassen. Bei den sozial gesinnten
Homosexuellen wäre die Ablösung der sozialen Gefühle von der Objektwahl nicht voll geglückt.
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin