Page - 1766 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Sexualobjekt nicht genehm, wahrscheinlich, weil sein Verhältnis zu ihr bereits durch den
Wettbewerb um die Liebe der Eltern im feindseligen Sinne bestimmt war. Er wich ihr aus, und
ihre Werbungen nahmen auch bald ein Ende. Aber er suchte an ihrer Statt eine andere, geliebtere
Person zu gewinnen, und Mitteilungen der Schwester selbst, die sich auf das Vorbild der Nanja
berufen hatte, lenkten seine Wahl auf diese. Er begann also vor der Nanja mit seinem Glied zu
spielen, was, wie in so vielen anderen Fällen, wenn die Kinder die Onanie nicht verbergen, als
Verführungsversuch aufgefaßt werden muß. Die Nanja enttäuschte ihn, sie machte ein ernstes
Gesicht und erklärte, das sei nicht gut. Kinder, die das täten, bekämen an der Stelle eine
»Wunde«.
Die Wirkung dieser Mitteilung, die einer Drohung gleichkam, ist nach verschiedenen Richtungen
zu verfolgen. Seine Anhänglichkeit an die Nanja wurde dadurch gelockert. Er hätte böse auf sie
werden können; später, als seine Wutanfälle einsetzten, zeigte es sich auch, daß er wirklich gegen
sie erbittert war. Allein es war für ihn charakteristisch, daß er jede Libidoposition, die er
aufgeben sollte, zunächst hartnäckig gegen das Neue verteidigte. Als die Gouvernante auf dem
Schauplatz erschien und die Nanja beschimpfte, aus dem Zimmer jagte, ihre Autorität vernichten
wollte, übertrieb er vielmehr seine Liebe zu der Bedrohten und benahm sich abweisend und
trotzig gegen die angreifende Gouvernante. Nichtsdestoweniger begann er im geheimen ein
anderes Sexualobjekt zu suchen. Die Verführung hatte ihm das passive Sexualziel gegeben, an
den Genitalien berührt zu werden; wir werden hören, bei wem er dies erreichen wollte, und
welche Wege ihn zu dieser Wahl führten.
Es entspricht ganz unseren Erwartungen, wenn wir hören, daß mit seinen ersten genitalen
Erregungen seine Sexualforschung einsetzte, und daß er bald auf das Problem der Kastration
geriet. Er konnte in dieser Zeit zwei Mädchen, seine Schwester und ihre Freundin, beim
Urinieren beobachten. Sein Scharfsinn hätte ihn schon bei diesem Anblicke den Sachverhalt
verstehen lassen können, allein er benahm sich dabei, wie wir es von anderen männlichen
Kindern wissen. Er lehnte die Idee, daß er hier die von der Nanja angedrohte Wunde bestätigt
sehe, ab, und gab sich die Erklärung, das sei der »vordere Popo« der Mädchen. Das Thema der
Kastration war mit dieser Entscheidung nicht abgetan; aus allem, was er hörte, entnahm er neue
Hindeutungen darauf. Als den Kindern einmal gefärbte Zuckerstangen verteilt wurden, erklärte
die Gouvernante, die zu wüsten Phantasien geneigt war, es seien Stücke von zerschnittenen
Schlangen. Von da aus erinnerte er sich, daß der Vater einmal auf einem Spazierweg eine
Schlange getroffen und sie mit seinem Stocke in Stücke zerschlagen habe. Er hörte die
Geschichte (aus Reineke Fuchs) vorlesen, wie der Wolf im Winter Fische fangen wollte und
seinen Schwanz als Köder benützte, wobei der Schwanz im Eis abbrach. Er erfuhr die
verschiedenen Namen, mit denen man je nach der Intaktheit ihres Geschlechts die Pferde
bezeichnet. Er war also mit dem Gedanken an die Kastration beschäftigt, aber er hatte noch
keinen Glauben daran und keine Angst davor. Andere Sexualprobleme erstanden ihm aus den
Märchen, die ihm um diese Zeit bekannt wurden. Im »Rotkäppchen« und in den »Sieben
Geißlein« wurden die Kinder aus dem Leib des Wolfs herausgeholt. War der Wolf also ein
weibliches Wesen oder konnten auch Männer Kinder im Leib haben? Das war um diese Zeit noch
nicht entschieden. Übrigens kannte er zur Zeit dieser Forschung noch keine Angst vor dem Wolf.
Eine der Mitteilungen des Patienten wird uns den Weg zum Verständnis der
Charakterveränderung bahnen, die während der Abwesenheit der Eltern im entferntern Anschluß
an die Verführung bei ihm hervortrat. Er erzählt, daß er nach der Abweisung und Drohung der
Nanja die Onanie sehr bald aufgab. Das beginnende Sexualleben unter der Leitung der
1766
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin