Page - 1871 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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V Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer
Aus der Morphologie der Massen rufen wir uns ins Gedächtnis, daß man sehr verschiedene Arten
von Massen und gegensätzliche Richtungen in ihrer Ausbildung unterscheiden kann. Es gibt sehr
flüchtige Massen und höchst dauerhafte; homogene, die aus gleichartigen Individuen bestehen,
und nicht homogene; natürliche Massen und künstliche, die zu ihrem Zusammenhalt auch einen
äußeren Zwang erfordern; primitive Massen und gegliederte, hochorganisierte. Aus Gründen
aber, in welche die Einsicht noch verhüllt ist, möchten wir auf eine Unterscheidung besonderen
Wert legen, die bei den Autoren eher zu wenig beachtet wird; ich meine die von führerlosen
Massen und von solchen mit Führern. Und recht im Gegensatz zur gewohnten Übung soll unsere
Untersuchung nicht eine relativ einfache Massenbildung zum Ausgangspunkt wählen, sondern an
hochorganisierten, dauerhaften, künstlichen Massen beginnen. Die interessantesten Beispiele
solcher Gebilde sind die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen, und die Armee, das Heer.
Kirche und Heer sind künstliche Massen, das heißt es wird ein gewisser äußerer Zwang
aufgewendet, um sie vor der Auflösung zu bewahren[30] und Veränderungen in ihrer Struktur
hintanzuhalten. Man wird in der Regel nicht befragt oder es wird einem nicht freigestellt, ob man
in eine solche Masse eintreten will; der Versuch des Austrittes wird gewöhnlich verfolgt oder
strenge bestraft oder ist an ganz bestimmte Bedingungen geknüpft. Warum diese
Vergesellschaftungen so besonderer Sicherungen bedürfen, liegt unserem Interesse gegenwärtig
ganz ferne. Uns zieht nur der eine Umstand an, daß man an diesen hochorganisierten, in solcher
Weise vor dem Zerfall geschützten Massen mit großer Deutlichkeit gewisse Verhältnisse erkennt,
die anderswo weit mehr verdeckt sind.
In der Kirche – wir können mit Vorteil die katholische Kirche zum Muster nehmen – gilt wie im
Heer, so verschieden beide sonst sein mögen, die nämliche Vorspiegelung (Illusion), daß ein
Oberhaupt da ist – in der katholischen Kirche Christus, in der Armee der Feldherr –, das alle
Einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt. An dieser Illusion hängt alles; ließe man sie
fallen, so zerfielen sofort, soweit der äußere Zwang es gestattete, Kirche wie Heer. Von Christus
wird diese gleiche Liebe ausdrücklich ausgesagt: »Was ihr getan habt einem unter diesen meinen
geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« Er steht zu den Einzelnen der gläubigen Masse im
Verhältnis eines gütigen älteren Bruders, ist ihnen ein Vaterersatz. Alle Anforderungen an die
Einzelnen leiten sich von dieser Liebe Christi ab. Ein demokratischer Zug geht durch die Kirche,
eben weil vor Christus alle gleich sind, alle den gleichen Anteil an seiner Liebe haben. Nicht
ohne tiefen Grund wird die Gleichartigkeit der christlichen Gemeinde mit einer Familie
heraufbeschworen und nennen sich die Gläubigen Brüder in Christo, das heißt Brüder durch die
Liebe, die Christus für sie hat. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Bindung jedes Einzelnen an
Christus auch die Ursache ihrer Bindung untereinander ist. Ähnliches gilt für das Heer; der
Feldherr ist der Vater, der alle seine Soldaten gleich liebt, und darum sind sie Kameraden
untereinander. Das Heer unterscheidet sich strukturell von der Kirche darin, daß es aus einem
Stufenbau von solchen Massen besteht. Jeder Hauptmann ist gleichsam der Feldherr und Vater
seiner Abteilung, jeder Unteroffizier der seines Zuges. Eine ähnliche Hierarchie ist zwar auch in
der Kirche ausgebildet, spielt aber in ihr nicht dieselbe ökonomische Rolle, da man Christus mehr
Wissen und Bekümmern um die Einzelnen zuschreiben darf als dem menschlichen Feldherrn.
Gegen diese Auffassung der libidinösen Struktur einer Armee wird man mit Recht einwenden,
daß die Ideen des Vaterlandes, des nationalen Ruhmes und andere, die für den Zusammenhalt der
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin