Page - 1911 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Aber allmählich verschiebt sich innerhalb dieser Leistungen der Akzent. Man merkt, daß die
Naturerscheinungen sich nach inneren Notwendigkeiten von selbst abwickeln; gewiß sind die
Götter die Herren der Natur, sie haben sie so eingerichtet und können sie nun sich selbst
überlassen. Nur gelegentlich greifen sie in den sogenannten Wundern in ihren Lauf ein, wie um
zu versichern, daß sie von ihrer ursprünglichen Machtsphäre nichts aufgegeben haben. Was die
Austeilung der Schicksale betrifft, so bleibt eine unbehagliche Ahnung bestehen, daß der Rat-
und Hilflosigkeit des Menschengeschlechts nicht abgeholfen werden kann. Hier versagen die
Götter am ehesten; wenn sie selbst das Schicksal machen, so muß man ihren Ratschluß
unerforschlich heißen; dem begabtesten Volk des Altertums dämmert die Einsicht, daß die Moira
über den Göttern steht und daß die Götter selbst ihre Schicksale haben. Und je mehr die Natur
selbständig wird, die Götter sich von ihr zurückziehen, desto ernsthafter drängen alle
Erwartungen auf die dritte Leistung, die ihnen zugewiesen ist, desto mehr wird das Moralische
ihre eigentliche Domäne. Göttliche Aufgabe wird es nun, die Mängel und Schäden der Kultur
auszugleichen, die Leiden in acht zu nehmen, die die Menschen im Zusammenleben einander
zufügen, über die Ausführung der Kulturvorschriften zu wachen, die die Menschen so schlecht
befolgen. Den Kulturvorschriften selbst wird göttlicher Ursprung zugesprochen, sie werden über
die menschliche Gesellschaft hinausgehoben, auf Natur und Weltgeschehen ausgedehnt.
So wird ein Schatz von Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche
Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit
der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts. Es ist deutlich erkennbar, daß dieser
Besitz den Menschen nach zwei Richtungen beschützt, gegen die Gefahren der Natur und des
Schicksals und gegen die Schädigungen aus der menschlichen Gesellschaft selbst. Im
Zusammenhang lautet es: das Leben in dieser Welt dient einem höheren Zweck, der zwar nicht
leicht zu erraten ist, aber gewiß eine Vervollkommnung des menschlichen Wesens bedeutet.
Wahrscheinlich soll das Geistige des Menschen, die Seele, die sich im Lauf der Zeiten so
langsam und widerstrebend vom Körper getrennt hat, das Objekt dieser Erhebung und Erhöhung
sein. Alles, was in dieser Welt vor sich geht, ist Ausführung der Absichten einer uns überlegenen
Intelligenz, die, wenn auch auf schwer zu verfolgenden Wegen und Umwegen, schließlich alles
zum Guten, d. h. für uns Erfreulichen, lenkt. Über jedem von uns wacht eine gütige, nur
scheinbar gestrenge Vorsehung, die nicht zuläßt, daß wir zum Spielball der überstarken und
schonungslosen Naturkräfte werden; der Tod selbst ist keine Vernichtung, keine Rückkehr zum
anorganisch Leblosen, sondern der Anfang einer neuen Art von Existenz, die auf dem Wege der
Höherentwicklung liegt. Und nach der anderen Seite gewendet, dieselben Sittengesetze, die
unsere Kulturen aufgestellt haben, beherrschen auch alles Weltgeschehen, nur werden sie von
einer höchsten richterlichen Instanz mit ungleich mehr Macht und Konsequenz behütet. Alles
Gute findet endlich seinen Lohn, alles Böse seine Strafe, wenn nicht schon in dieser Form des
Lebens, so in den späteren Existenzen, die nach dem Tod beginnen. Somit sind alle Schrecken,
Leiden und Härten des Lebens zur Austilgung bestimmt; das Leben nach dem Tode, das unser
irdisches Leben fortsetzt, wie das unsichtbare Stück des Spektrums dem sichtbaren angefügt ist,
bringt all die Vollendung, die wir hier vielleicht vermißt haben. Und die überlegene Weisheit, die
diesen Ablauf lenkt, die Allgüte, die sich in ihm äußert, die Gerechtigkeit, die sich in ihm
durchsetzt, das sind die Eigenschaften der göttlichen Wesen, die auch uns und die Welt im
ganzen geschaffen haben. Oder vielmehr des einen göttlichen Wesens, zu dem sich in unserer
Kultur alle Götter der Vorzeiten verdichtet haben. Das Volk, dem zuerst solche Konzentrierung
der göttlichen Eigenschaften gelang, war nicht wenig stolz auf diesen Fortschritt. Es hatte den
väterlichen Kern, der von jeher hinter jeder Gottesgestalt verborgen war, freigelegt; im Grunde
war es eine Rückkehr zu den historischen Anfängen der Gottesidee. Nun, da Gott ein Einziger
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin