Page - 1956 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Das merkwürdigste Beispiel dieses Vorganges haben wir an der Analerotik des jugendlichen
Menschen gefunden. Sein ursprüngliches Interesse an der Exkretionsfunktion, ihren Organen und
Produkten wandelt sich im Lauf des Wachstums in die Gruppe von Eigenschaften um, die uns als
Sparsamkeit, Sinn für Ordnung und Reinlichkeit bekannt sind, die, an und für sich wertvoll und
willkommen, sich zu auffälliger Vorherrschaft steigern können und dann das ergeben, was man
den Analcharakter heißt. Wie das zugeht, wissen wir nicht, an der Richtigkeit dieser Auffassung
ist kein Zweifel[82]. Nun haben wir gefunden, daß Ordnung und Reinlichkeit wesentliche
Kulturansprüche sind, obgleich ihre Lebensnotwendigkeit nicht gerade einleuchtet, ebensowenig
wie ihre Eignung als Genußquellen. An dieser Stelle mußte sich uns die Ähnlichkeit des
Kulturprozesses mit der Libidoentwicklung des Einzelnen zuerst aufdrängen. Andere Triebe
[neben denen der Analerotik] werden dazu veranlaßt, die Bedingungen ihrer Befriedigung zu
verschieben, auf andere Wege zu verlegen, was in den meisten Fällen mit der uns wohlbekannten
Sublimierung (der Triebziele) zusammenfällt, in anderen sich noch von ihr sondern läßt. Die
Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es
möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine
so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen. Wenn man dem ersten Eindruck nachgibt, ist man
versucht zu sagen, die Sublimierung sei überhaupt ein von der Kultur erzwungenes
Triebschicksal. Aber man tut besser, sich das noch länger zu überlegen. Drittens endlich, und das
scheint das Wichtigste, ist es unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf
Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung,
Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese
»Kulturversagung« beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen; wir
wissen bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben.
Sie wird auch an unsere wissenschaftliche Arbeit schwere Anforderungen stellen, wir haben da
viel Aufklärung zu geben. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie man es möglich macht, einem
Trieb die Befriedigung zu entziehen. Es ist gar nicht so ungefährlich; wenn man es nicht
ökonomisch kompensiert, kann man sich auf ernste Störungen gefaßt machen.
Wenn wir aber wissen wollen, welchen Wert unsere Auffassung der Kulturentwicklung als eines
besonderen Prozesses, vergleichbar der normalen Reifung des Individuums, beanspruchen kann,
müssen wir offenbar ein anderes Problem in Angriff nehmen, uns die Frage stellen, welchen
Einflüssen die Kulturentwicklung ihren Ursprung dankt, wie sie entstanden ist und wodurch ihr
Lauf bestimmt wurde.
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1956
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin