Page - 2089 - in Schriften von Sigmund Freud - (1856–1939)
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Wünschen des Ödipuskomplexes übereinstimmen mußten. Wer dawiderhandelte, machte sich der
beiden einzigen Verbrechen schuldig, welche die primitive Gesellschaft bekümmerten[240].
Die beiden Tabu des Totemismus, mit denen die Sittlichkeit der Menschen beginnt, sind
psychologisch nicht gleichwertig. Nur das eine, die Schonung des Totemtieres, ruht ganz auf
Gefühlsmotiven; der Vater war ja beseitigt, in der Realität war nichts mehr gutzumachen. Das
andere aber, das Inzestverbot, hatte auch eine starke praktische Begründung. Das sexuelle
Bedürfnis einigt die Männer nicht, sondern entzweit sie. Hatten sich die Brüder verbündet, um
den Vater zu überwältigen, so war jeder des anderen Nebenbuhler bei den Frauen. Jeder hätte sie
wie der Vater alle für sich haben wollen, und in dem Kampfe aller gegen alle wäre die neue
Organisation zugrunde gegangen. Es war kein Überstarker mehr da, der die Rolle des Vaters mit
Erfolg hätte aufnehmen können. Somit blieb den Brüdern, wenn sie miteinander leben wollten,
nichts übrig, als – vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischenfälle – das Inzestverbot
aufzurichten, mit welchem sie alle zugleich auf die von ihnen begehrten Frauen verzichteten, um
derentwegen sie doch in erster Linie den Vater beseitigt hatten. Sie retteten so die Organisation,
welche sie stark gemacht hatte und die auf homosexuellen Gefühlen und Betätigungen ruhen
konnte, welche sich in der Zeit der Vertreibung bei ihnen eingestellt haben mochten. Vielleicht
war es auch diese Situation, welche den Keim zu den von Bachofen erkannten Institutionen des
Mutterrechts legte, bis dieses von der patriarchalischen Familienordnung abgelöst wurde.
An das andere Tabu, welches das Leben des Totemtieres beschützt, knüpft hingegen der
Anspruch des Totemismus an, als erster Versuch einer Religion gewertet zu werden. Bot sich
dem Empfinden der Söhne das Tier als natürlicher und nächstliegender Ersatz des Vaters, so fand
sich in der ihnen zwanghaft gebotenen Behandlung desselben doch noch mehr Ausdruck als das
Bedürfnis, ihre Reue zur Darstellung zu bringen. Es konnte mit dem Vatersurrogat der Versuch
gemacht werden, das brennende Schuldgefühl zu beschwichtigen, eine Art von Aussöhnung mit
dem Vater zu bewerkstelligen. Das totemistische System war gleichsam ein Vertrag mit dem
Vater, in dem der letztere all das zusagte, was die kindliche Phantasie vom Vater erwarten durfte,
Schutz, Fürsorge und Schonung, wogegen man sich verpflichtete, sein Leben zu ehren, das heißt
die Tat an ihm nicht zu wiederholen, durch die der wirkliche Vater zugrunde gegangen war. Es
lag auch ein Rechtfertigungsversuch im Totemismus. »Hätte der Vater uns behandelt wie der
Totem, wir wären nie in die Versuchung gekommen, ihn zu töten.« So verhalf der Totemismus
dazu, die Verhältnisse zu beschönigen und das Ereignis vergessen zu machen, dem er seine
Entstehung verdankte.
Es wurden hiebei Züge geschaffen, die fortan für den Charakter der Religion bestimmend
blieben. Die Totemreligion war aus dem Schuldbewußtsein der Söhne hervorgegangen als
Versuch, dies Gefühl zu beschwichtigen und den beleidigten Vater durch den nachträglichen
Gehorsam zu versöhnen. Alle späteren Religionen erweisen sich als Lösungsversuche desselben
Problems, variabel je nach dem kulturellen Zustand, in dem sie unternommen werden, und nach
den Wegen, die sie einschlagen, aber es sind alle gleichzielende Reaktionen auf dieselbe große
Begebenheit, mit der die Kultur begonnen hat und die seitdem die Menschheit nicht zur Ruhe
kommen läßt.
Auch ein anderer Charakter, den die Religion treu bewahrt hat, ist damals schon im Totemismus
hervorgetreten. Die Ambivalenzspannung war wohl zu groß, um durch irgendeine Veranstaltung
ausgeglichen zu werden, oder die psychologischen Bedingungen sind der Erledigung dieser
Gefühlsgegensätze überhaupt nicht günstig. Man merkt jedenfalls, daß die dem Vaterkomplex
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Schriften von Sigmund Freud
(1856–1939)
- Title
- Schriften von Sigmund Freud
- Subtitle
- (1856–1939)
- Author
- Sigmund Freud
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 21.6 x 28.0 cm
- Pages
- 2789
- Keywords
- Psychoanalyse, Traumdeutung, Sexualität, Angst, Hysterie, Paranoia, Neurologie, Medizin
- Categories
- Geisteswissenschaften
- Medizin